198, Teil II: Blumen in Venedig
Italien, November 2021.
Der zarte Reiher besetzte Treppenstufen, die cremig-hellblau umspült wurden; der Vogel war ein Klecks weichgefilterten Softboxlichtes, beinahe schien er zu zerfließen. Schnabel und Stelzenbeine schwarz; reglos ließ er den heftigen Verkehr der Vaporettos über sich ergehen, kein Hupen, kein Brausen, kein Stau und Lamentieren brachten ihn aus der Ruhe. Er stieß mit dem Kopf ins Wasser, ein zappelndes Silberschillern, rasch verschluckt, bezeugte seinen Erfolg. Bereits kurz zuvor hatte ich im Kanal, der die Notaufnahme des Ospedale flankierte, einen Kormoran auf Fischzug beobachtet, mich wundernd, was da alles an Leben und Natur zutage trat zwischen dem pompösen, teils erlöschenden Glanz einer außerordentlichen Pracht voller Marmor, Granit, Eichenholz (damals wie heute kostbar). Der Ruinencharakter mancher Stellen faszinierte und begeisterte mich stärker als die vorbildlich verputzten Gebäude mit ihren modernen Fenstern und kalten, abweisenden Ansichten. Der Kormoran, der Reiher im türkisen Naß steinerner Treppen, verfallene, mit herbstrot leuchtenden Weinranken überwucherte Türmchen, unzählige Stromleitungen und Muster aus sich lösender Tünche – sie zusammen waren mir ein Bild unendlicher Romantik, einer winzigen, wirkmächtigen Magie. Sogar an Orten des Niedergangs, einer gewissen Vernachlässigung oder finanziellen Not zeigte Venedig sich von einer unnachahmlichen Eleganz überhaucht. Ein Lastenkahn, beladen mit einer Fracht riesiger, grüner Gasflaschen, rauchende, zupackende Arbeiter, “Ciao Mario!” – “Ciao Bella!”. Ein Mann, der auf einem leeren Platz seinem Hund die Frisbeescheibe warf, welche Sprungkraft!, welch ungebremste Freude, der gleiche Platz, auf dem tags zuvor kreischende, kleine Buben einem Fußball hinterhergejagt waren.
Den Rezeptionisten – freundlich, professionell – nervte ich mit meinem beharrlichen Wunsch nach einer Vase; seit ich jenen durch und durch amerikanischen Hollywoodfilm gesehen hatte, in welchem Angelina Jolie eine Haute Couture gekleidete, Juwelen geschmückte Geheimagentin spielt und in einem gediegenen Nobelhotel neben einem phänomenal opulenten Rosenstrauß posiert, durchgeisterte mich das Verlangen nach frischen Blumen auf dem Zimmer, sollte ich das nächste Mal Venedig bereisen. Nun, hier war ich, und hier standen sie, meine Rosen, bloß sechs Stück an der Zahl, pastellkreidenrosé und üppig-weiß, völlig überteuert und kein Vergleich mit dem Vorbild der Inspiration (oder des Spleens?), aber ich hatte es mir geschworen einst, und überwiegend halte ich die Versprechen, die ich mir selbst gebe. Vertrag erfüllt; die Blumen, ihre Anwesenheit im Hotelraum, erinnerten mich an den milkalila Tempellotus, den ich in Sri Lanka eben nicht geopfert, sondern mir aufs Nachtkästchen gestellt hatte in einem wabbeligen Plastik-Zahnputzbecher… Aufgrund des penetranten Übergebrauchs von stechenden, reizenden Desinfektionsmitteln überlebten meine Rosen kaum ein paar Tage; sobald sie vergangen waren, hatte man auch die gigantische, kupfer-orange gläserne, geliehene Vase entfernt – wie ich die im Koffer hätte wegschmuggeln sollen, weiß ich beim besten Willen nicht…
Daß es wohl doch etwas zuviel des Campari gewesen sein könnte, bemerkte ich, als ich lachend im fliederfarbenen Pyjama auf dem breiten Travertin-Fensterbrett meines Badezimmers stand, ins Laternen beschienene Dunkel spähend, dort hinunter, wo die schwachen Regentropfen in den grünen Kanal rieselten, ein Augenblick, der mir gehörte. Eine Frau im Haus gegenüber wunderte sich offensichtlich über mein kindisches Gebaren, was mich zum Lachen brachte, und ich lachte laut im Schlafanzug auf einem venezianischen Palazzo-Sims, während es regnete.