147 Reifen
Guatemala, November 2016.
Ein zerstörtes Land, vom Bürgerkrieg nach wie vor gezeichnet, über weite Strecken entsetzlich häßlich, Bordelle und Love Hotels, die sich nahtlos aneinanderreihen, kaputt gerodete Flächen kilometerweit, nackte Betonkuben oder rostende Wellblechverschläge, Altmetallhaufen auf den Wiesen, Plastikkitsch und Abgasgestank überall, latente Gewalt, metertiefe, nicht mit Warnschildern oder -bändern gekennzeichnete Löcher, die unvermittelt im Boden aufklaffen, abgemagerte, streunende Hunde scharenweise. Betrachtet man ein Kind, es anlächelnd, so packt die Mutter es und zerrt es fort vor Furcht, es könne ihr gestohlen werden. Das Gemüse auf den Märkten ist derart überdimensioniert groß, daß man davon ausgehen kann, daß die verwendeten Düngemittel nicht EU-konform sein können, um es harmlos zu formulieren. Gekaufte Backwaren halten trotz der hohen Luftfeuchte mehrere Wochen, ohne zu schimmeln, ohne auch nur hart zu werden, vollgepumpt mit chemischen Helferlein wie sie sind. Diese drei Wochen Guatemala verlangten meinen hochsensiblen (wahlweise auch überempfindlichen, verhätschelten) Sinnen allerlei ab; hochtrabendes Gemecker einer weißen Touristin inmitten der Lebenswirklichkeit von über siebzehn Millionen Menschen, die keine andere Wahl haben, als dort irgendwie zurechtzukommen. Von den vergifteten Flüssen hatte ich erzählt, ebenso von den Allerheiligengebräuchen (vgl. Beiträge 37, 28 und 140).
Stehend und uns am Geländer festkrallend rumpelten wir auf der Ladefläche eines Pick-Ups durch die Gegend. Vom steilen, sich windenden Kiespfad wirbelte unangenehm der Staub auf, üppige, ursprüngliche Natur hatte ich noch keine erspäht, stattdessen magere Felder, aufgerissene Erdkrumen, brachial gelichtete Baumansammlungen jüngeren Datums. Endlich raus aus den Städten, die von wenigen Ausnahmen wie Antigua oder Flores abgesehen nichts Pittoreskes aufzuweisen haben, hatte ich mich auf die Schönheit der Vegetation gefreut; der Dämpfer der Enttäuschung kontrastierte mit der Wirbelsäulen strapazierenden, ruppigen Fahrt nach Semuc Champey, mehrere hintereinander gelegene Felsenpools, die terassenartig abfallen und in herrlichen Türkis-, Jade-, Blautönen leuchten. Ja, Semuc Champey entpuppte sich als fantastischer Anblick, wenn man das weitläufige Drumherum ausblendete, wenn man die Landschaft zuschnitt auf ein Instagramquadrat, nun, dann war es das Paradies auf Erden. Ich pflege nicht in Quadraten zu denken, versuchte aber, mein inneres Genörgel abzustellen und das wenige zu genießen, das zu genießen es gab.
Die Kamera ließ ich mangels sicherer Alternative in der Unterkunft – ein von einem Israeli geführtes Camp voller bunter Holzhäuschen mit spitzen, fast bis zum Boden herabkragenden Dächern, die wirkten wie einem Comic entsprungen -, sodaß ich keine anderen Bilder habe als die meiner Augen und meines Herzens. In eines der oberen der etwa ein Dutzend amorphen Becken stieg ich, sogleich von kleinen Fischchen besucht und beknabbert. Viele junge westliche Backpacker tummelten sich auf dem Areal, planschend, feixend, sich über die kühle Temperatur beschwerend oder aufquietschend, wenn einer der Fische zu fest in die Zehen gezwickt hatte, johlende Mittzwanziger, Saltos schlagend in die nächste Ebene hüpfend, sich gegenseitig bespritzend und untertauchend, Szenen unbeschwerter Ausgelassenheit. Ich schwamm in die andere Richtung, hinein in eine Art Miniaturkanal, den ich für mich hatte. Zu meinen Seiten erhoben sich steil die Felswände, dunkelbraun und rau, gespickt von Farnen, Orchideen, exotischen Bäumchen; es roch würzig nach feuchtem Felsen, Erdreich, Pflanzenleben. Unter meinen Zügen plätscherte das klare Wasser auf, schwache Lichtmuster werfend. Nur an wenigen Stellen Guatemalas hatte ich tatsächlich das Gefühl, dort zu sein, in Guatemala, und jenes stille, schmale Becken Semuc Champeys mit seinen grünen Blattzungen, Fischlein, Lichtsprengseln, Naturdüften gehörte dazu.
Ebenso ein aufgelöstes Nonnenkloster, Santa Clara, in der malerisch-atmosphärischen Hauptstadt, das zu erkunden ich lediglich die Zeit fand, weil ich eine Bergtour hatte abbrechen müssen; obwohl der Hausarzt daheim es prophezeit hatte und ich anderntags eine 4000er Wanderung nahe der mexikanischen Grenze sehr wohl geschafft, war dieser permanente, hochgradig steile Anstieg zu viel gewesen für meine Bronchitis geplagten Lungen. Jedenfalls kapitulierte ich rasch und ließ mich zurückbringen in den kolonial geprägten Ort, dessen einstige Pracht noch immer hervorschimmerte unter abplatzenden Schichten vielfarbiger Tünche und zwischen Ruinen mannigfaltiger Gestalt, überbordend bewachsen mit leuchtenden Winden und bedeckt von zauberhaften Blumenmeeren. Dieses Kloster jedenfalls war von ansprechendster Architektur, deren Eleganz sich auch noch im Zustand des Niedergangs zeigte, famose Steinkonstruktionen, Bogen, Tonnengewölbe, marmorne Brunnen; in dunklen Ecken küssten sich verliebt die jugendlichen Paare. Liebe ist nicht öffentlich in Guatemala, kein Händchen halten, kein Schmusen, schon gar nicht unter Unverheirateten, dafür entdeckt man Prostituierte in den verblüffendsten Gegenden: Pilgerstätten, Kirchenräume, Friedhöfe.
Wenn die Mädchen 15 oder 16 Jahre alt werden, richtet man ihnen ein Initiationsfest aus, das sie in den Kreis erwachsener Frauen aufnimmt; wurden sie früher in endlose Stoffbahnen und aufplusternde Rüschenmassen gesteckt, hat sich mittlerweile das kleine Schwarze etabliert, das in der Tat sehr klein, sehr kurz und sehr eng ausfällt, die Lippen rot getuscht, die Augen schwarzen Kohlen gleich betont, und man organisiert – sofern man es sich leisten kann – einen professionellen Fotografen, das Ereignis stilvoll (oder was man eben dafür erachtet) festzuhalten. Eines jener Shootings vor einer katholischen Kirchenfassade beobachtete ich zufällig, ehrlich gesagt mich ein wenig amüsierend über den jugendlichen Stolz der zelebrierten, zur Schau gestellten Weiblichkeit. Andererseits würde ein solches Initiationsfest (jenseits von Firmung und Konfirmation) vielleicht auch unseren Mädchen gut tun, den Wechsel an der Schwelle von Kindheit und Frausein leichter zu vollziehen. Mir jedenfalls hätte es Orientierung geboten. In das kleine Schwarze nämlich traue ich mich – 35jährig – noch immer nicht recht hinein…