148 Drei Minuten, acht Sekunden

148 Drei Minuten, acht Sekunden

München, Dezember 2020.

Blumensträuße, soweit ich mich erinnern kann, erhielt ich (abgesehen von Gaben innerhalb der Familie), drei an der Zahl: ein Geburtstagsbouquet von meiner Gymnasialfreundin mit Spitznamen Marmotte, gelbe Orchideen von meinem Kumpel und Mathe-Nachhilfelehrer, sowie ein Dankeschön von einer scheidenden Arbeitsstelle (ach, und eine einzelne, miniaturhafte rosa Wildbüte von einem omanischen Verehrer, vgl. Beitrag 73). Ähnlich sieht es mit einer für andere Leute weiteren Selbstverständlichkeit aus: nur selten kam ich in den Genuß verschenkter Musik, fünf Mal in meinem Leben, um genau zu sein: Chopins Virtuosität von einer klassisch interessierten Schulfreundin, noch auf Kassette gebannt; Carla Bruni – Chansons von der Sekretärin des elterlichen Büros; selbst komponierte Klavierstücke von einem Kunden der Literaturagentur, in der ich ein Praktikum absolvierte vor halben Ewigkeiten; einige Titel via Mail von dem verehrten “Weltretter”, darunter die Instrumentalversion eines Adele-Songs; und jüngst Kiras Auswahl.

Ich traf Kira während des Einschreibungstages zum Wintersemester 2004; die Gänge des Universitätsgebäudes waren verstopft mit wartenden jungen Menschen, die sich von allen Richtungen her anstellten, um sich einen Studienplatz zu organisieren. Insgesamt herrschte ein braves Chaos, man hatte viel Zeit, sich mit dem Vordermann (oder eben der Vorderfrau) plauschend zu unterhalten, sehr viel Zeit, insgesamt dauerte es sechs Stunden, ehe ich endlich an der Reihe war und mich offiziell als Studierende bezeichnen durfte. Kira, eine filigrane, zarte Person, knurrte der Magen, ich aber hatte mir gleich mehrere Brote geschmiert daheim mit Paprikaaufstrich und Salatblättern, das weiß ich noch, die ich teilen konnte mit ihr. Gleich ein paar Tage später fanden wir zufällig wieder nebeneinander Platz im riesengroßen Vorlesungssaal, wo eine fächerübergreifende Pflichteinführung stattfand. Kira hatte sich für nordische Philologie entschieden, sollte später viele Jahre in Norwegen und Schweden leben; uns einte das gehegte und gepflegte und geliebte über hüftlange Haar, glatt, seidig und voll, wo wir ansonsten eher unterschiedlich waren in Wesen und Streben. Unsere Freundschaft war lockerer Natur, die letzte persönliche Unterhaltung führten wir in einem Schwabinger Café Ende 2011, ich erzählte ihr von meinen Erlebnissen in Jordanien (vgl. Beiträge 45 und 46), sie trug einen in gesetzten Tönen gehaltenen Strickpulli mit Sternenmuster, ich ein schwarzes Shirt, dessen Ärmel üppig bunt bestickt waren – warum merkt man sich so etwas? Auch wenn wir einander nicht wieder sprachen, blieb ein zarter Kontakt aufrechterhalten in Form von postalischen Grüßen, Briefen, kleinen Gesten: ein Adventskalender hier, ein liebenswürdiges Buch dort.

Irgendwann im Sommer dieses fragwürdigen Jahres erhielt ich dann ein ganz besonderes Geschenk von ihr, mit dem ich nicht gerechnet hatte und das mich sehr berührte: sie sandte mir tatsächlich Musik. Drei CDs skandinavischer Interpreten, die sie selbst besonders schätzte, die sie mit mir teilen wollte (gewiß nicht als Erkenntlichkeit für die Gemüsestulle sechzehn Jahre zuvor), das fand ich schön, unglaublich schön. Trotzdem ließ ich Monate verstreichen, ehe ich die erste Scheibe einlegte – Musik kann mich unter Umständen tief bewegen, aus dem Lot bringen, wenn sie mir nämlich zu Herzen geht und dieses Herz gerade fragil und zerbrechlich und angegriffen ist. Schon bei den ersten Klängen war mir klar: hätte ich ihr vorher bereits gelauscht, sie hätte mich zerrissen mit ihrer melancholischen Poesie, mit der herrlichen Stimmgewalt, denn der Tod meiner Tante, meiner Seelengefährtin, im Juli hatte mir einen Schlag versetzt, der keinen Platz ließ für zusätzliche Erschütterungen. Kira hat ihre Auswahl sorgfältig getätigt, aus mehreren Alben der Sängerin Kari Bremnes erstellte sie mir ihre Favoriten, 18 Titel, von denen fast alle exakt meinen Geschmack trafen. Diese CD höre ich begleitend zum Schreiben – jetzt gerade -, zum Putzen, während des Yoga praktizierens. Es hat jemand gedacht an mich in diesem isolierten Jahr! Hat mir seine Lieblingsmusik (oder Teile davon) anvertraut, wie kostbar, wie fantastisch… Die anderen beiden CDs sind nach wie vor unausgepackt: irgendwie hebe ich sie mir auf, so wie man sich besonders erlesene Pralinen oder einen edlen Tropfen für einen adäquaten Anlaß aufhebt. Liebe Kira, ich weiß nicht, ob du in meinem Blog liest, aber die lange Lücke zum letzten Beitrag wollte ich mit einem Dank füllen. Ob wir uns je wieder sehen werden, uns weiterhin Postkarten senden ein paar Mal im Jahr, bis wir alte Hutzelfrauen sind? Ich werde jedenfalls nicht vergessen, daß du mir Musik geschenkt hast in einer Zeit, in der so viele freundschaftliche Beziehungen zerbrochen sind oder in Sande versickert, in der einige Leute sich zurückziehen in Schweigen (oder schlimmer noch: Vorwürfen).

Liebe Kira (die du natürlich nicht so heißt), danke dir recht herzlich. Wenn ich mich für ein Lieblingslied von Kari Bremnes entscheiden müßte (was recht schwer fiele), dann vielleicht Det sandeste (das Wahrste), es öffnet mir etwas im Inneren und bringt die Saiten zum Beben und Zittern, ein selten gewordenes, wertvolles Gefühl, angesiedelt zwischen Sehnsucht, Glück und leiser, ganz leiser Freude, ein Gefühl drei Minuten und acht Sekunden während und lange darüber hinaus.

Eine Antwort

  1. Zack_Rusa sagt:

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