143 Auf dem falschen Stern
München, September 2020.
Ich ekle mich. Bis zum Erbrechen ekle ich mich vor dieser Gesellschaft, vor dieser Zeit. Der Ekel ist so tiefgründig und umfassend, man darf ihn als Lebensekel bezeichnen. Ungebeten ploppen journalistische Artikel auf: “Pflegen statt Popeln: Finger weg vom Nasenloch.” (zeit.de), “Luzius, 15, dement” (es geht um einen Hund, sz.-magazin). In der Druckversion der Apothekenumschau kann man nachlesen, daß gegenwärtig 48% der Deutschen paranoid seien bzw. Verschwörungstheorien anhingen. Eine völlig beliebige Auswahl medialer Ergüsse, Instagram und Fernsehen noch gar nicht eingerechnet oder der Stuß, den man im Radio verzapft. Scham, Anstand, Würde, Stolz, Niveau – Fremdwörter in diesem Universum, das einem aufgezwungen wird. Weicht man ab, ist man “komisch”, “blasiert”, ein Objekt, das man meidet. Kritik macht nicht sonderlich attraktiv, zumal sie gerechtfertigt ist, sie stört, verunsichert. Es ist – auch noch im 21., gleichberechtigten Jahrhundert – eine Strafe, als scharfzüngige Frau geboren zu sein. Ich sehne mich danach, dazuzugehören zu jenen, die sich für Popel interessieren und demente Hunde, denn nichts tut mehr weh, als ausgeschlossen zu sein, es zu bleiben, ein Fremdkörper in einer verkehrten Welt zur falschen Zeit und zu wissen, daß sich nichts je daran ändern wird und man ohnmächtig untätig bleibt, isoliert, abseits, sozialer Error.