140 Unbedarft
München, Juli 2020.
Mittlerweile ist sie gestorben, meine Tante.
Vierzehn Rosenstöcke habe ich gesetzt die letzten Wochen, winzige Fairy und opulent duftende Gospel, historische de Resht, zarte Aspirin, unbekannte Schönheiten – eine Art Sammlung ist es nun beinahe über die Jahre hinweg geworden, aber der Garten ähnelt einem schwarzen Loch: was man pflanzt, das schluckt er in seiner Opulenz, verleibt es sich ein ganz und gar, sodaß das Neue zum Nebendarsteller wird. Tagelang haben die Lilien mit ihrem Duft meterweit die Luft geschwängert bis hinaus auf die Straße; Hortensien und Blutweiderich bilden momentan die Hauptakzente; wie können die Dinge so herrlich sein, lieblich, wo doch wieder ein Sarg im Bauch der Erde verschwunden ist, himmelblau?
Ich hantierte im Staudenbeet, gab Johanniskraut ein zu Hause, Eisenhut. Ich lockerte das verwucherte Wurzelwerk, wie es sich gehört, tat es mit bloßen Händen. Sie fingen das Kribbeln an, wurden kalt bei fast dreißig Grad Lufttemperatur. Da fiel es mir ein: daß die giftigste Pflanze Europas – das Toxin konzentriert in den Wurzeln – über unversehrte Haut hindurch wirken könne; schlecht und schwindelig wurde mir. Vierzig Minuten entscheiden über das weitere – bei mir gab es das, ein Weiteres, Glück gehabt. Ich wunderte mich über meine Unbedarftheit – da fiel mir eine Geschichte ein.
Guatemala, November 2016.
Wir besichtigten einen Pyramidenkomplex als einzige Besucher, weniger bekannt war er, schwerer zu erreichen, vielleicht auch nicht ganz so prächtig. Große Teile des Areals harrten noch der Ausgrabung, Wiederentdeckung, Erforschung, ein Mekka für Archäologen. Touristen hingegen benötigten viel Fantasie und Enthusiasmus, welchem letzteren es manchen der Gruppe ermangelte, zu sehr kämpften sie sinnlos gegen die Mückenschwärme an. Der urige Wald, der uns und die Ruinen beschirmte, weite, lockere Kronendächer spannend, barg einige Tücken. Ein Mann erlebte eine Krise (er sprang in die Höhe, auf der Stelle trampelnd, in weibischer Stimmlage schrill aufkreischend OH-Ah-IH-IGITT-IIEEHHH!), als er gewahrte, daß nur Zentimeter neben seinen Sandalen (in denen die Füße nackt steckten) eine fette, haarige rostrot-schwarze Tarantel hockte, die ich persönlich recht interessant fand, zumal sie sich vom menschlichen Affentanz völlig unbeeindruckt zeigte. Fledermäuse ruhten in einer Stammulde, Ameisen wuselten umher. Ja, die Moskitos störten auch mich, sie fraßen einen bei lebendigem Leibe auf; trotzdem nervte das Gebaren der Gruppe bedeutend mehr, verweichlichte Städter, die ihre Körper in hermetisch luftdicht abgeriegelten, klimatisierten Studios stählten und hier während der Reise regelmäßig allerlei Plastikdosen öffneten, um sich der benötigten Pillen zu bedienen: Magnesium, Kalcium, Mikronährstoffe, Proteine; neben der Beschaffung anständigen Kaffees die Hauptsorge in einem Land, das noch stark gezeichnet ist von Bürgerkrieg, häuslicher Gewalt, Bandenkriminalität, Prostitution, Armut.
Es begann, in Strömen zu regnen; die Leute murrten, die Insekten wurden wir einstweilig los. Wir machten uns auf den Rückweg, schipperten per Boot flußabwärts.
Er war ungeheuer breit, der Fluß, die bewachsenen Ufer lagen fern zu beiden Seiten. Es dröhnte der Motor, als wir das stahlgraue, undurchsichte Wasser teilten. Insgesamt zweieinhalb Stunden sollte die Fahrt dauern; immer wieder starrte ich zu den Ufern. Es war so still. Nichts bewegte sich, kein Vogel, der aufflatterte, kein Fisch, der aufsprang. Diese Stille barg nichts friedliches, im Gegenteil, sie schien einem zu drohen in ihrer ruppigen Präsenz, eine sonderbare, seltsame Atmosphäre kreierend. Der Regen versiegte, nun rührte sich nichts mehr als unser Bootsrumpf. (Wenn ich von Stille spreche: das Geplapper der Gruppe ausgenommen…) Der Herr mir gegenüber, einer jener Sorte, die es grundsätzlich besser wissen und aus Prinzip dagegen halten, wenn man etwas äußert, ließ seine Hand ins Wasser hinabbaumeln.
“Hast du denn keine Angst?” entfuhr es mir spontan (man bleibt ja irgendwie ein soziales Wesen).
“Wovor?” schnappte er aggressiv.
“Keine Ahnung. Daß dich was beißt.”
“Piranhas vielleicht? Ein Krokodil? Hahahahaha.”
Während der restlichen Strecke blieb die Hand im Fahrwasser. Nichts passierte, triumphierenden Blickes wurde ich belehrt, ich Feigling.
Abends speisten wir in der lauen Dunkelheit unter freiem Himmel. Ich vergnügte mich, indem ich mit dem achtjährigen Buben der Lodgebetreiberin zum Discobeat eines Ghettoblasters tanzte (vgl. Beitrag 37). Irgendwann, en passant, erzählte unser Guide von den Nöten der lokalen Bevölkerung. Daß das Areal, in dem sich die besuchten Pyramiden befanden, als Schutzgebiet der Indigenen ausgewiesen, die Holzindustrie aber gierig auf Einschlag aus sei; daß man die angestammten Ureinwohner vertrieben habe mit einer illegalen List.
“Als die wäre?” fragte Mr. Besserwisser.
“Ach, der Fluß, den wir nachmittags entlangfuhren.”
“Ja?”
“Sie haben ihn tonnenweise vergiftet. Ohne Fisch und Vogel und Säugegetier besaßen die Indianer keine Lebensgrundlage mehr. Sie zogen sich zurück, die Holzmafia konnte roden.”
“Das Wasser vergiftet??”
“Ja, alles tot dort.”
Ich biß mir auf die Lippen, ich war angetrunken vom billigen Fusel, der ausgeschenkt worden war. Ich biß mir auf die Lippen, um nicht loszulachen (obwohl das Thema an sich freilich endlos traurig und erschütternd war). Innerlich feixte ich: recht unbedarft, einem fremden Ökosystem – das noch dazu ganz offensichtlich nicht in Ordnung war, wie die dröhnende Stille angezeigt hatte – genauso sorglos zu begegnen wie dem deutschen, domestizierten, kontrollierten, künstlichen Forst.
Aber manchmal verhält man sich eben unbedarft – sollte ich je nochmals Eisenhut pflanzen, dann nur angetan mit Handschuhen.