14 Ein blattvergoldetes Poesiealbum zum leeren Parfümflakon
Augsburg, Juni 2003.
Es war ein Blanko-Buch, wattiert, quadratisch, darauf abgebildet die berühmte Schwarz-Weiß-Aufnahme des Zunge herausstreckenden Albert Einsteins. Ich hatte es in der Oberstufe von der Mutter einer damaligen Schulfreundin geschenkt bekommen, ohne offiziellen Anlaß oder Grund. „Ach, weißt du,“ hatte sie gesagt, „ich mag dich halt einfach!“ Niemals wieder hatte das jemand mit solch aufrichtiger Inbrunst zu mir gesagt. Ich entschied, ein Poesiealbum daraus zu machen und ließ es unter meinen Mitschülern umherkreisen. Die Einträge gerieten reifer und sorgfältiger als jene zu Kinderzeiten, ich war bewegt, wieviel Mühe man sich gemacht hatte. Oft wurden ganze Lieblingspassagen großer deutscher Schriftsteller zitiert. Und immer ging es um Unabhängigkeit und Stärke. Daß ich meine Marionettenfäden abstreifen solle (wie Julia Roberts es tut in der Parfümwerbung), daß ich gewiß „meinen Weg“ gehen werde. Der letzte, dem ich das Buch gab, war Martin, ein lustiger Kerl aus dem Kunstkurs. Ich überreichte es ihm am Abschlußtag, an dem wir traditionell Spaß und Unfug treiben durften, weshalb Martin sich entschieden hatte, in einem Kostüm aufzukreuzen, das ihn zum Steinzeitjäger machte, samt Fellimitat, Keule und viel freier Haut…
Das Album sollte bei ihm verschütt bleiben, obwohl wir uns an der Universität zufällig häufiger begegneten. Mehr als zehn Jahre später erhielt ich Post. Darin enthalten mein Poesiealbum, plötzlich mit blattvergoldetem Schnitt und einer gekritzelten Notiz, daß er umgezogen sei und dabei mein Buch wiedergefunden habe, daß er kein Typ für Sprüche und Bildchen sei und daher kurzerhand stattdessen eine Vergoldung angebracht habe. Außerdem, kommentarlos, befand sich in der Sendung ein leerer Duftflakon. Dior Homme Intense. Ich habe trotz versuchter Kontaktaufnahme nie wieder von Martin gehört. Den Flakon besitze ich noch immer, und manchmal, ganz selten, hebe ich den Verschluß ab, um daran zu riechen.