136, Teil I: Casati Augen
Peru, Juni 2009.
Luisa Casati war eine verschwendungs-, vergnügungs- und geltungssüchtige Femme Fatale des ersten Viertels des Zwanzigsten Jahrhunderts, die ihr ererbtes Milliardenvermögen für Paläste, Feste, mit Diamanten verzierte Verkleidungen noch zu Lebtagen verschleudert hatte; ihre einzige Tochter vernachlässigte sie, während Hundertschaften an Dienern goldfarben bemalt sich um ihre eigenen Wünsche und Launen zu kümmern hatten und ein Zoo aus Menschenaffen, Raubkatzen und Riesenwürgeschlangen sie teils auf Spaziergänge durch Venedig, teils auf ausgedehnte, weltweite Reisen begleitete. Casati kleidete sich nicht, nein, sie flanierte entweder nackt oder zeigte sich kostümiert, stets darauf bedacht, aufzufallen und zu schockieren, lange bevor Lady Gaga sich in ein “Fleischkleid” gewanden sollte. Außer mit Einkaufen, Partys schmeißen, Personen konsumieren und Provozieren scheint sie kaum weiter tätig gewesen zu sein, mir bleibt es ein Rätsel, wofür sie immer wieder bejubelt wird; warum ich sie erwähne? Ihre Augen, groß, schwarz, behandelt mit Belladonna und fetten Kajalrändern, galten als Magnet, als hypnotisch. Quellen und Zeitzeugen erwähnen dies ohne Unterlaß, und ich muß sagen: solche Augen habe ich auch schon einmal gesehen.
Ich hatte mich für die Route des Salkantaytreks entschieden anstatt für den bekannteren Inka Trail, beide in mehreren Tagesmärschen zur präkolumbinischen Kultstätte Machu Picchu führend (vgl. Beitrag 80). Ich kam frisch von der Uni, ohne vom praktischen Leben eine Ahnung zu haben. Erstmals stieß ich auf echte Armut, auf physische und psychische Grenzen. Um ehrlich zu sein, war ich sehr mit mir selbst beschäftigt gewesen, damit, erwachsen zu werden, den durchdrehenden Kompass zu eichen auf Sinn, Reife, auf den roten Faden (welchen letzteren ich übrigens noch immer nicht gefunden habe, aber das tut nichts zur Sache weiter). In Cuzco jedenfalls hatte ich die fünf Wandertage inklusive Guide, Zelt und Verpflegung bei einem lokalen Veranstalter gebucht.
Ich erinnere mich noch sehr gut an die bunt zusammengewürfelte Gruppe junger Reisender, da es meine erste überhaupt gewesen war: ein sympathischer Brite Mitte dreißig, der regelmäßig gymnastische Abendübungen ausführte an den Campgründen; zwei hellblonde, perfektes Englisch sprechende Bilderbuch-Däninnen; eine außerordentlich hübsche, zierliche Französin namens Magalie, in die ich mich auf den Fleck weg verliebt hätte, würden Frauen mich auf diese Weise interessieren; eine dauerredende amerikanische Psychologin (meine Zeltpartnerin…); vier Brasilianer; zwei Schweizerinnen (die ich ein Jahr später besuchte in Zürich, so gut verstanden wir uns); und Soroush. Dessen Eltern waren unter Khomeini aus dem Iran geflüchtet, sich in den USA niederlassend, als Soroush etwa achte Jahre alt gewesen war. Er selbst war dann nach Kolumbien ausgewandert, wo er als Ethnobotaniker arbeitete. Soroush gehörte der Glaubensgemeinschaft der Parsen an, die ihre Verstorbenen weder zu beerdigen, noch zu verbrennen pflegten, sondern auf hohen Türmen außerhalb der Statdtmauern abzulegen, wo sie von aasfressenden Geiern allmählich skelettiert wurden – das war so ziemlich das erste, was er mir erzählte, als wir uns kennenlernten.
Soroush besaß eine ganz eigene, erstaunliche Art der Kommunikation. Ich beobachtete, daß er mit jedem einzelnen Teilnehmer der Kurztour Unterhaltungen führte, stets exklusiv zu zweit, stets äußerst angeregt-intensiv, stets zeitlich begrenzt, eben solange, bis er sich einem anderen von uns zuwandte. Irgendwie machte dies einen neugierig auf ihn, den Exoten unter uns, den Parsen, den Mann mit diesen unglaublich brennenden, stechenden, gigantischen, schwarzen Augen – Luisa Casati- Augen! Unbedingt wollte ich mehr über ihn erfahren, mich austauschen! Ach, wie sehr wünschte ich mir das, die ich zugleich verzweifelt meiner hartnäckigen Quasselstrippen-Zeltgenossin zu entkommen versuchte, ein Shakespeare´sches Paradox in Reinform! Soroush war von einer Aura des Unnahbaren, des tief Geerdeten umgeben, auch körperlich wirklich anziehend, die Stimme wohlklingend. Ich hörte ihn sein Fragen-Antwortenspiel betreiben hinter mir, hörte seine Schritte auf dem knirschenden Grund des Pfades, hörte wie ein Schweigen sich herabsenkte, der Gang sich beschleunigte, wie er neben mich trat, ein lakonisches “Hi!” ausstoßend (mittlerweile weiß ich, daß ein lakonisches Hi! interessanter Männer meist gar nicht lakonisch ist, so wie “Just Talking” alles mögliche bedeutet, bloß nicht Just Talking (vgl. Beitrag 73)).
“Ach!” dachte ich mir mit klopfendem Herzen. “Jetzt bin ich also dran!”