125 Gefühlsreise
München, Februar 2020.
Durch das nahe, kleine Moor flanierte ich, zunächst noch bitterlich weinend, wissend, niemandem begegnen zu werden, wie der Wind mit Eisgraupel vermengt auf mich einpeitschte. Die mit voller Wucht zunichte gemachten Hoffnungen durchwirbelten mein Innerstes und quollen ungebremst heraus. Entzwei gebrochen war ich wie die alte Esche aus meinen Kindertagen, die der Orkan zerschmettert hatte, als sei sie ein rohes Ei gewesen. Die kalten Böen nun, die menschenleere Landschaft, die unfreundliche Witterung, die Naturstille, sie versetzten mich plötzlich nach Lappland, wo wir jenen Paß vorübergewandert waren, einen Geschmack von Schnee im Mund, das Bleigrau der Unwirtlichkeit vor Augen; auch ließ es mich an den Cajas Nationalpark denken fast elf Jahre zuvor, an die sintflutartigen Regengüsse damals, die dünne Luft auf über 4000 Metern, den matschigen Grund, die gedrechselten, gewundenen, verschlungenen Stämme, hundert Jahre alt und mehr, und irgendwie wurde ich ruhig darüber.
Schleier lichteten sich, Farben sprangen auf, Strukturen schälten sich aus der Nichtbeachtung. In der einheitlichen Trübnis tupften Grünnuancen auf- ein schreierisches, neones Moosgrün hier, ein turmalinhaltiges Kieferngrün dort-, aquarellierten sich dumpfe Rot- und Violettfelder aus dem alten Braun vertrockneter Erika heraus. Birkenweiß verzahnte sich strahlend mit schwerem Nadelwald, Blaubeerbüsche zitterten und zausten in der wildgewordenen Luft, die mir spitze Kügelchen ins Gesicht schlug. Der Boden unter mir fühlte sich weich an, gelegentlich entlockten meine Füße ihm ein derbes Schmatzen. Wadenhohes Gesträuch ratschte die Hosenbeine entlang, beinahe seufzend.
Als ich an der Wasserfläche angelangte, ein Kanal ähnlicher, amorpher See, aus welchem schwarzes Totholz ragte, zersplitterte sie in tausende Plättchen, die der Wind auf sie atmete. Noch während ich das Ufer studierte, die gebeugten, wogenden Wollgräser, die Buckel aus Torfmoos, das Gewirk aus Heide und Baummeer, zeigte sich am Himmel ein zaghaftes Knittern, wie man es von Leinenstoffen her kennt, der Graupel versiegte und ein Licht – schmutzig-gelblich – tastete sich strahlenlos aus der einen oder andern Lücke im Wolkengebälk hinunter, mich dennoch blendend, als es sich spiegelte auf dem gekräuselten Naß.
Ich schlug mich tiefer den schmalen, vagen Pfad voran, nach Bärlapp suchend, auf schüchterne Vogellaute lauschend, leises Meisengebrumm. Gerade als ich meine Besinnung in mich für zurückgekehrt glaubte, stieß ich auf einen fremden Liebespfand, versteckt im geheimen Abseits, einem Ort romantischster Art: aus Tannenzapfen hatte man ein Datum geformt, den 02.02.2020, sowie ein prächtiges Herz. Eine zärtliche Geste, unaufgeregt, aufrichtig – die Galle schoß mir über. Ich war vor meinem eigenen Kummer geflüchtet ausgerechnet hinein in ein subtiles Nest tiefer gegenseitiger Verbundenheit, man hätte mich treten können, es wäre nicht schmerzlicher ausgefallen für mich. Und doch besah ich mir die Botschaft sehr, sehr lange und freute mich für die unbekannte Person, der sie galt.
Dieser Spaziergang vor der Haustüre barg viele Elemente einer Reise: ich wandelte durch eine urige, faszinierende Gegend, gebeutelt vom Wetter, getrieben von einem Seelenaufruhr, wie er im Alltag eher selten auftaucht, genoß das gewählte, bitter-süße Alleinsein, in dem es erlaubt ist, völlig zu fühlen und frei zu sein im Denken, in dem man heilen kann auf unerklärliche Weise; ein überraschender Moment, festgehalten nicht mit der Kamera, sondern eine Aufnahme, die tief in meinem Gehirn verankert ist, ein Moment, wie man ihn auf einer Tour erstöbert, im Unterwegssein – ja, diese Stunde heimatliches Moor, sie war meine Gefühlsreise.