119, Teil II: Von Höhlen und größeren Höhlen
Portugal, November 2019.
Es regnete nicht, es kübelte. Mein Mietwagen tschuckelte Kurven nehmend diverse Anhöhen hinauf, spärlich mit Korkeichen und Heide bestandener Karst verschmolz mit dem fahlen Grau ringsumher. Die Ortschaften, die ich passierte, wirkten verlassen und irgendwie trostlos, gesichtslose Betonkuben, von denen der Putz abblätterte, schwarz verrußte Fassaden, zersplitterte Fenster, schiefe, bröckelnde Mauern, von Rinnen herablaufender Rost, ein Wirrwarr aus Stromkabeln, an Masten zu dicken Knäueln verknotet. Die Gegenden wirkten ärmlich aber sauber gehalten, ein Umstand – fehlender Müll also -, der den Eindruck von entvölkerten Geisterplätzen verstärkte. Mitten in solch einer kleinstädtischen Ansiedlung tauchte der gesuchte Hinweis auf, ein braun metallenes Schild mit der Aufschrift Grutas Mira de Aire. An diesem Tag hatte ich mir als Programm drei nahe beieinander gelegene Höhlensysteme auserkoren, neben dem genannten noch die kleineren St. António und Alvados. Der gekieste Parkplatz, es verwunderte wenig, war verwaist. Nachdem ich eine Karte gelöst und mir einen Espresso bestellt hatte, mit dem ich mir die Wartezeit auf die nächste Führung zu verkürzen gedachte, hockte ich ein wenig ratlos auf Plastikmöbeln, welche reinsten Kantinenflair versprühten. Der beinahe kuriose Anblick der scharrenden, pickenden Gänse und Truthühner vor dem Fenster munterte mich auf, die Schnäbel leuchteten herrlich in der Trübnis draußen. Es füllte sich allmählich doch noch, ein sympathisch wirkendes französisches Paar Ende zwanzig, Anfang dreißig mit kleinem Buben in Hosenlatz und Gummistiefeln, eine aufgeregt schnatternde Gruppe portugiesischer Senioren. Unser Guide sperrte pünktlich auf die Minute den Eingang zur Höhle auf.
Hier endlich fand ich sie, die Schönheit, nach der ich gesucht hatte.
Ein riesiger Raum von fünfundvierzig Metern Höhe tat sich unangekündigt auf, geschickt illuminiert von dezent angebrachten Glühbirnen, nicht zu grell, nicht zu dunkel, ein Spiel aus Schatten bergend, aus Lichtern, Formen, eine Mischung aus Entdecken und Geheimnis, Erkennen und Raten, schummriges Mysterium, warm-rote Stimmung eines Candlelight Dinners. Rhythmisch stampfte Wasser herab, ein unablässiges, in Intervallen zu vernehmendes Ploppen, Plätschern, Rieseln, zarte Triangellaute, zuweilen glöckchenhell, dann tieferem Xylophon ähnelnd. Es glucksten kleine Bäche, die von oben fallenden Tropfen mit gurrenden Tönen in sich aufnehmend. Die Luft war feucht, kühl, doch roch sie in keiner Weise nach Moder oder Fäulnis, ja, nicht einmal nach Gestein. Binnen einer Viertelstunde waren meine leichten Turnschuhe durchnäßt; an Fotografieren war nicht zu denken, zu porös und durchlässig das Erdreich, durch das der Regen von der Oberfläche rasch sickerte. Zu schade, denn es präsentierten sich herrlichste Bilder und Motive! Manche Stalaktiten hingen ungebleichtem, schweren Leinenstoff gleich üppig gefaltet von der Decke nieder, Gewänder gotischer Holzskulpturen imitierend, Madonnen und Heilige in gestärkten Roben. Zähflüssiges Karamell in feinen Windungen bedeckte die Wände, gespickt mit weiß aufglitzernden Prismen, Kalzit. Stalagmiten im Aussehen dicker, fleischiger Quallen erhoben sich, die mäandernden Tentakeln wild verstreut, Mondlandschaften erweckende Termitenhügel taten sich auf, Feenkamine, Spaghettiwälder, Fratzen, Gnome, Kolonien von Geißeltierchen und ganze Korallenriffe, polierte Spiegel, Formationen wie Wespennester, geometrisch zart und raffiniert gebaut, Sinterflächen, die mich an die Terrassen des guatemaltekischen Chemuc Sempey erinnerten: je tiefer wir die Gänge entlangwandelten, desto mehr entwickelte sich der geführte Spaziergang unter Tage zu einer Weltreise mit dem Ziel Fantasia. Ich fühlte mich wohl dort unten im Bauch des Berges, genoß die immer neuen Impressionen. Das offensichtliche Vergnügen des vielleicht zwei bis dreijährigen vor mir hertippelnden französischen Jungen, dessen Ausrufe des Entzückens, des Staunens, machten mich schmunzeln. Ich bewunderte die jungen Eltern, die einen sportlichen, ausgeglichenen Eindruck erweckten und sich rührend und doch ohne zu viel Aufhebens um ihr Kind kümmerten. In ihnen wähnte ich mein Idyll von Familie.
Als ich dem Weitwanderer, eine Zufallsbekanntschaft auf El Sitio (vgl. Betitrag 118), später inbrünstig erzählte, es sei eine der schönsten Höhlen gewesen, die ich je betreten hatte (und ich besuche sie regelmäßig, wenn sich die Gelegenheit bietet, sei es in Irland, Schottland, im Oman, auf Soqotra, in Guatemala und so weiter), da zückte er sein Smartphone, mir das Bild eines französischen Höhlensystems in perfektem Instagram-Layout präsentierend, das mich aus dem Konzept brachte: es mutete gigantisch, imposant, beeindruckend an und schien unbestreitbar größer zu sein, toller, gar ästhetischer, neutral festgestellt. Das ließ sich schwerlich toppen, sogar prähistorische Malereien seien zu sehen gewesen. Nach dem ersten Gefühl der Überrumpelung angesichts dieser Übertrumpfung breitete sich in mir Amüsement aus: Süßigkeiten, Wirbellose, Insektenbauten, Figuren des 14. Jahrhunderts, italienische Pasta, norwegische Trolle, Wasserkonzerte waren mir reichlich und genug, bescherten mir Glück, Inspiration, Zufriedenheit. Ich messe mich nicht in Wettbewerben (es war übrigens gewiß nicht die Absicht meines Gegenübers gewesen, kompetetiv zu siegen, vielmehr faßte mein schnell zu verunsicherndes Seelenkostüm es lediglich im ersten Moment spontan so auf).
Ich war ausgezogen, die Schönheit zu suchen und hatten sie gefunden – dankbar packe ich dieses Erlebnis in mein inneres Schatzkästchen.