110, Teil I: Marrakesch in Ausschnitten

110, Teil I: Marrakesch in Ausschnitten

Marokko, Juni 2013.

Ich befand mich auf dem jüdischen Friedhof, allein. Es handelte sich um ein relativ kleines Areal, das aufzutreiben mich einiges an Nerven und Geduld gekostet hatte, so unscheinbar und verborgen liegt es irgendwo in der Altstadt Marrakeschs. Die Männer, die ich unterwegs auf französisch ansprach, wollten mich stets gleich begleiten, nicht zum Friedhof, sondern in ein Café, oder sie versuchten, mir Waren aufzuschwatzen, nach denen mir nicht der geringste Sinn stand. Ich wechselte die Taktik, erkundigte mich bei den wenigen Frauen ohne maskulinen Anhang, die mich aus schönen Augen anstarrten, während ich mit einem Stadtplan herumfuchtelte, und die mir zu verstehen gaben, daß sie nicht lesen könnten. Sofort war ein Anzug gewandeter Herr zur Stelle, der mir den Weg gerne erklären wolle bei einer Tasse Minztee. Längst war ich in wütender Frustration gefangen, doch ich biß mich durch, sodaß ich nach viel vertaner Zeit endlich, endlich dort angelangt war, wohin ich wollte. Hier war die legendäre rote Stadt nicht mehr rot, sondern cremebeige. Sie war auch nicht mehr turbulent und laut, dafür gespenstisch ruhig. Keine knatternden Mopeds, keine rezitierten Koransuren, keine aufgeregten „Madame, ça va, voulez-vous … -“ der Händler, keine neugierig-scheelen Blicke über die Europäerin ohne Kopftuch, kein Gemisch aus extrem dominanten Gewürzen und allgegenwärtigem Eselurin, wie er sonst aus den mittelalterlichen Gassen dampfte. Verdörrte Gräser mit malerischen Samenrispen quollen zwischen den Grabsteinen hervor, die nicht das geringste gemein hatten mit denjenigen aus unserem Kulturkreis. Verwittert, zuweilen zerbrochen bedeckten sie das staubige Erdreich, rau-steinerne Kuben und Rechtecke, mit fast unleserlichen Inschriften versehen. Zuckte eine Eidechse über eine der Platten, oder spielt mir meine Erinnerung einen Streich? Das Mittagslicht warf sich blendend weiß auf den Ort, die Arme ausbreitend, Hitze verströmend, ein Ort, der zeitlos, einsam, fremd anmutete. Nachdem ich eine Weile umhergeschlendert war, die kargen Grabmale betrachtend, setzte ich mich irgendwo dort nieder, um nichts zu machen, als die Stimmung aufzusaugen in mich, die durch ihre Verlassenheit bestach. Verlassenheit lädt zu Reflexion ein, und tiefes Nachdenken kann so unglaublich befriedigend sein, auch wenn es sich mit traurigen Inhalten beschäftigt, wie sie ein Friedhof, ein jüdischer dazu, nun einmal birgt.

Ich hatte mich während des Studiums mit nordafrikanischer Lehmbauweise sowie arabischen Architekturelementen ausgiebig beschäftigt und die entsprechenden Abbildungen in dicken Sachschinken bewundert. Nun stand ich inmitten des Lernstoffs, sprachlos. Die historische, nicht länger als solche benutzte Madrasa (eine Art Internatsschule) war gerade wenig besucht, mein Glück. Um einen Wasserbecken gefüllten Innenhof gruppierten sich Wände, die flirrten und vibrierten, summten und sangen in einem kleinteiligen, kunterbunten Rausch aus silij-Fliesen, eine Dekorationstechnik, die in ihrer höchsten Form der Leistung eines Schachspielers entspricht, der imstande ist, elf Züge im Kopf vorauszusehen. Schwarz, Weiß, Kürbisorange, Jadegrün waren die vorherrschenden Farben, gebettet in Dreiecke, Quadrate, simple Geometrien, die wiederum komplexere, miteinander verbundene Sterne bildeten, aus welchem sich schließlich in der Gesamtschau die „Spinnenetze Gottes“ formten, wie man die Fliesenwände im Islam gerne nennt. Wirklich ähnelte der Dekor einem feinen Gewebe, glänzend wie Seide, aufgespannt unter den hölzernen Balkonen der oberen Geschosse, reich geschnitzt. Die Kammern der Schüler im Inneren hingegen ähnelten Mönchszellen, schlicht gehalten und weiß gekalkt. Es roch wohlig nach Vergangenheit, gepaart mit latenter Wehmut über das Verschwundene, das noch zaghaft herüberwehte zu mir in die Gegenwart.

 

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