107, Teil III: Versagungen, Verlockungen

107, Teil III: Versagungen, Verlockungen

Norwegen, September 2019.

Zu meinem 34. Geburtstag, der mir ein besonderer war, weil ihn meine Schwester nicht mehr hatte feiern können, wollte ich mir eine Uhr anschaffen, Zeichen voranschreitender Zeit, weitergehenden Lebens: Band und Gehäuse aus Porzellan, das Ziffernblatt perlmuttern, auf der Rückseite eine gravierte Weltkarte. Sie war sportlich-elegant designt und ihrer Qualität entsprechend hochpreisig. Ich verwarf die Idee aus Vernunftgründen: wann hätte ich Gelegenheit gehabt, sie zu tragen? Im Wald oder auf Tour wohl kaum, und für feine Anlässe wie ein Opernabend war sie zu wenig feminin. Umso heftiger stolperte ich über das schweizer Fabrikat am Handgelenk unseres Guides gleicher Herkunft, eine wohlproportionierte, nicht protzige aber ungemein schöne Uhr, die mit einer nonchalenten Selbstverständlichkeit tagsüber den Arm zierte und nachts im Zelt an irgendeiner vorhandenen Schnürung aufgehängt wurde. Ja, er habe sie sich gegönnt, und ja, sie sei immer mit von der Partie, in den Bergen, auf dem Boot, er gebe ein wenig Acht darauf, aber was solle schon groß passieren. Vielleicht ein Kratzer hier, eine Schramme dort, so sei das nun einmal, wenn man Gegenstände gebrauche, und für sorgsamen Gebrauch seien sie schließlich gefertigt. Schweizerdeutsch war noch nie so sexy.

Wenn ich gewußt hätte, daß alle Trekkingteilnehmer unter einem einzigen Zeltdach schlafen und die Toilette der Lodge, in der wir zusätzliche Nächte nach dem Wanderpart verbringen würden, 100 Meter entfernt lag, ich hätte gewiß nicht gebucht, weil mir ein Mindestmaß an Privatsphäre absolut heilig ist und ich als fleißige Teekonsumentin überproportional oft aufs Klo flitze. Nun bin ich unheimlich froh, es nicht gewußt zu haben, denn diese gerade einmal acht Tage zählen zu den schönsten Reiseerlebnissen überhaupt, was bei bald vierzig Touren durchaus etwas bedeuten mag.

Es war halb sechs Uhr morgens, Helligkeit kroch zu mir in den Schlafsack. Das Licht hatte mich nicht geweckt, sondern ein konstantes, gleichmäßiges Zischen, das vom Gaskocher herrührte. Eine Weile darauf blubberte es behaglich, den Duft frischen Kaffees verbreitend, das Signal, sich endgültig aus der Nacht zu winden hinein in den neuen Tag. Wir frühstückten eingeweichtes, warmes Müsli mit Himbeersirup aus der Flasche, Zimt und frisch gepflückten Blaubeeren, köstlich. Vom Öffnen der Lider bis zum ersten Schritt der Wanderung vergingen in der Regel volle vier Stunden: den Abwasch erledigen, die Sachen verstauen und zu gleichmäßigen Lasten bündeln, das Zelt abbauen, die Rentiere füttern, satteln, mit den Packtaschen versehen. Gern gewonnene Routine, ein fremder, nährender Rhythmus. Manchmal machten Kälte und Regen einen Strich durch die Gemütlichkeitsrechnung, man sehnte sich nach der Bewegung, dem Warmwerden des Körpers durch das Laufen, aber solange nicht alles gut verwahrt war und die Rentiere vorbildlich „angekleidet“ (man sorgte zum Beispiel dafür, daß sie nicht zu schwer oder ungleichmäßig trugen, daß keine Reibungsstellen zwischen Sattel und Rücken entstanden), konnte nicht aufgebrochen werden, basta. So erduldete man die blauen Lippen, das Klappern der Zähne, das Zittern in den Gliedern (ich werde gewiß nie eine Eisblume werden, sondern stets mehr der Wüstentyp bleiben, was die Temperaturverträglichkeit betrifft, und trotzdem fasziniert mich das Nordische mittlerweile: Island (vgl. Beiträge 33 und 34), Grönland (vgl. Beiträge 9 und 10), Norwegen (vgl. Beiträge 92 und 93)).

Ben, unser Guide, hüpfte morgens und abends in das stille Wasser umliegender kleiner Seen, Tümpel, Bäche, in etwa sechs Grad frisch. Ich wünschte, ich hätte das auch gekonnt, denn sie bezauberten mit herrlichen Spiegelungen und Farben, sie riefen einen förmlich zu sich, so als säße auf ihrem Grund ein Nymphenwesen, das auf einer Laute betörende Lieder zupft… Ich habe mich nicht bei Ben erkundigt, ob er einem solchen Feengeist begegnet ist, ob er weiß, was ich meine damit. Abends, im Stirnlampenlicht, widmete er sich aber der Lektüre eines Buches, die mich vermuten läßt, daß er empfänglich ist für das Flüstern des flüssigen Elements: Morten A. StrÆksnes´ Das Buch vom Meer oder Wie zwei Freunde im Schlauchboot ausziehen, um im Nordmeer einen Eishai zu fangen und dafür ein ganzes Jahr brauchen

 

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