299 Was ein Sommer ist

299 Was ein Sommer ist

München, August 2025

In der Dekorationsbranche spricht man von Vignetten, wenn man sein Heim mit Arrangements aufschmückt, die gewissen ästhetischen Regeln folgen und einen stimmungsvollen aber geordneten Eindruck vermitteln sollen. Die Anzahl der Objekte, deren Größe, Struktur, Materialbeschaffenheit, ihre Anmutung wirken dann als Ensemble, das eine Aussage über den Raum sowie auch dessen Bewohner transportiert und das Auge erfreut. Sie zeugen von diskretem Geschmack, von Sorgfalt und Hinwendung und heißen Besucher willkommen. Meine Monate Juni, Juli und August (letzterer bisher, er ist gerade eben angebrochen) bestanden aus solchen Vignetten, die ich in der Natur vorfand.

Was ist mir ein Sommer? Lebensfreude zuallererst, Unbeschwertheit, Unternehmungen draußen, aktiv, mit Freunden. Sommer, das ist: einen dicken Becher löffeln in der Eisdiele, während die langen, geschmeidigen Triebe der alten Weide über das Metallgeländer hinunter in den städtischen Fluß streifen; Radeln über die Kornfelder, die Dörfer mit ihren pittoresken Bauerngärten (so noch vorhanden), ihren Kappellchen irgendwo auf der Flur; Schwimmen im See, begleitet vom Geschnatter der Gänse und von wirbelnden, tanzenden Libellen; es ist das Open Air Konzert und die Kinovorstellung unter freien Himmel am Klosterareal der stattlichen Barockkirche; Sommer, mit gebücktem Rücken am Erdbeeracker stehen, Früchte in die Schüssel ernten und sich in den Mund stopfen, bis einem übel wird; Dösen in der Sonne, Baden in überschwenglichen Düften von Rose und Lilie; der ausgedehnte Spaziergang im Englischen Garten, das Kioskbier dort, die Gespräche mit Fremden, Plaudereien, die weit über Small Talk hinausgehen und beglücken, obwohl man einander nie wieder treffen wird; Sommer, das sind die Handwerksmärkte und Grillabende, die selbst drapierten Wildblumensträuße, der tschilpend-pfeifende Schwalbenflug. Sommer heißt Erwartung und Miteinander, kindliche Heiterkeit, Gelöstheit. Rasen mähen, Zucchini und Kürbis ernten, schwitzen, ächzen unter der Hitze und lachen darüber. Lichterfeste besuchen, Weizenkränze flechten, träge auf glitzerndes Wasser blicken, den kranken Hund mit dem Wagerl durch die Gegend schieben und, wenn man Glück hat, ein freundlich-überraschtes Schmunzeln dafür kassieren. Sommer heißt Mückengesumm und Wespengetummel und Schmetterlingswoge; gekühlte Limonade oder Weinschorle, einfach um Omis hübsche Kristallgläser zu verwenden, in denen das Licht sich so apart bricht; Lesen auf der Picknickdecke, Ameisen abstreifen, Schattensprengsel beobachten und den frechen Star, der den Wurm aus dem Boden zupft direkt vor deiner Nase.

Ich sehe: zwei Freundinnen, die eine zu Pferd, die andere auf dem Fahrrad, sie sausen durch die Gegend mit flatterndem Haar, fröhlich. Ich sehe: drei Freunde im Oldtimer-Cabrio, jubelnd, die Musik laut aufgedreht; sehe: zwei Frauen, wie sie mit dem SUP den olivgrünen, schnellen Lech hinunterpaddeln, glucksend, kichernd; und wieder welche auf einem klapprigen, laut tuckernden Traktor, den Waldpfad entlangrumpelnd mit Holzspankörben voller Pilze. Jedes Mal denke ich mir dann, welch ein Glück, daß sie einander haben und etwas gemeinschaftliches unternehmen, daß sie Freude teilen und den Sommer, denke, daß ich gerne mitreiten würde, mit im Oldtimer-Cabrio hocken, auf dem SUP paddeln oder auf dem greisen Traktor durcheinandergerüttelt werden. Daß es mehr gibt, als einen Cappuccino hinunterzukippen oder an einem Cocktail zu nippen, was auch einmal nett sein kann, aber eben einfach mehr Konsum ist denn wirkliche Gemeinschaftlichkeit. Daß Gemeinschaftlichkeit Bewegung bedeutet, eine Unternehmung, ein Projekt (und sei es das Sammeln von Sommerpilzen für einen Kochabend unter Freunden). Daß Unternehmungen, so sie denn stattgefunden haben, auf meine Initiative hin geschehen waren meist (gewiß nicht immer), daß deren Planung und Durchführung von mir abgehangen waren, daß ich zu organisieren hatte und zu fahren, daß ich mir Mühe gegeben hatte all die Jahre und auch wirklich oft in Lokalen hockte, wo es mir gar nicht schmeckte und nicht behagte, nur um Gemeinsames zu tun, daß ich engagiert gewesen war und rücksichtsvoll und auf jeden Fall wirklich bemüht, auch zuzuhören den Sorgen und Träumen und Rat zu erteilen oder Verständnis zu zeigen (etwa dafür, daß mein Hang zu Kultur eben nicht erwidert wird, zu Abenteuer, und man diese Neigungen dann unterdrückt), ich war also nach bestem Wissen und Gewissen Freundin gewesen –  es hat nicht gereicht. Zusammen mit den Kisten für den Flohmarkt, die online Vintagestellen, die Sozialkaufhäuser, zusammen mit den nicht mehr benötigten Büchern, Kleidungsstücken, Möbeln war ich entsorgt worden (und zuvor obsolet). Drei Dekaden Freundschaft für die Tonne, drei Dekaden Freundschaft vernichtet innerhalb weniger Seiten Brief und zwei oder von mir aus vier dutzend What´s App-Nachrichten. Wenn es nun die Ausnahme geblieben wäre! Aber auch sechs Jahre Gassi-Freundschaft konnten binnen einiger Minuten What´s App beendet werden, Zack! Peng! Aus. Da gehören zwei dazu, ich will mir gar nicht das im totalen Rechtsein anmaßen (obwohl ich wieder nicht ganz begreife, was mein Versagen, mein Fehler gewesen war). Schöne Grüße an Tana (das ist mein Hund), stand da plötzlich, unvermittelt, und: Mach´s gut. Wenn das so leicht geht, so geschwind, das Freundschaft zerbrechen, das Freundschaft aufkündigen, wenn man sechs Jahre geteilte Höhen und Tiefen, Nöte und witzige Anekdoten in weniger als fünf Minuten anzünden und verbrennen kann (Anstoß war eine Bemerkung meinerseits gewesen zuvor), dann wollte ich darum gar nicht mehr kämpfen. Ich habe nicht geantwortet. Nicht aus Groll, aus Kränkung, Bitterkeit, Resignation, nein. Ich habe deswegen nicht geantwortet, weil meine Auffassung von Freundschaft strukturell eine andere ist. Da werden sechs Jahre nicht zerschossen aufgrund vielleicht ungelenk formulierter drei, vier Zeilen What´s App.

Einen Sommer 2025, den hatte ich nicht, der fiel aus. Nicht der kühlen, regnerischen Witterung des Juli wegen; er fiel aus, weil ich nichts, oder fast nichts, dessen tat, was mir Sommer bedeutet, keine bis zum Platzen abgeernteten Erdbeerfelder, keine gemütlichen Radeltouren, verdösten Nachmittage, geflochtenen Weizenkränze. Insbesondere und zuvorderst jedoch keine Cabriotouren mit Freunden, geselligen Grillfeste, gemeinsamen Open Air Veranstaltungen. Nichtsdestotrotz gab es ihn, den Sommer 2025, er bescherte die herrlichsten, köstlichsten, traumsunkensten, poetischsten Vignetten seit über zehn Jahren, da der Regen der Natur Fülle und Leben bescherte, derer sie die Dürre der vergangen Zeit beraubt hatte.

Die Stämme junger Erlen verschwanden im Wolkenstaub rosa-beiger Grasrispen, als sei der Hain nicht von dieser Welt.

Schachtelhalmwiesen umkränzten die Birken und Weidensträucher mit ihren urig gefiederten Tannenrosetten.

Schlotfegermassen tupften Balkenstriche hinter Wasserdostflaum und Mädesüßschöpfe.

Gigantischer, beeindruckender Bärenklau (ich möchte jetzt bitte nichts von „invasiven Arten“ hören, danke) entfaltete seine neongrünen Blattpranken vor einem säuselnden, lispelnden Pappelwäldchen. Auf seinen megalomanen weißen Blütendolden tummelten sich die Falter: Tagpfauenauge, Landkärtchen, Admiral, Kaisermantel, Zitronen- und Distelfalter, die aufgeregt flügelten und sich mit den Bienen und Fliegen um den Pollen stritten.

Die lichten Waldwegsäume und Uferböschungen kleiner Bäche waren ein undurchdringliches, verfilztes, übermannshohes Gemenge aus pinken und lila Disteln, Karden, aus Johanniskraut, Beifuß, wilder Möhre und Kümmel, aus Glockenblumen (kleinblütige und großblütige), Malven und Schafgarbe, Wermuth und Brennessel, gelbem und rosa Springkraut (ja, wieder „invasiv“), Storchschnabel, Salbei, Ziest. Grillen krabbelten über den Kiesweg und zirpten aus der Vegetation ein lautes, beständiges, wohlklingend gestimmtes Orchester des Sommerfriedens. Es roch erdig oder nach Heu, pfeffrig nach Kohldisteln oder süß von den Linden, die Weißdorne quollen über vor sich rötenden Früchten, die Pfaffenhütchen bogen sich unter reifenden Samenhülsen. Ich entdeckte Pflanzen, die mir unbekannt waren, Turmkraut etwa (ich schlug es nach im 80er Jahre-Führer, dessen Klebeheftung längst aufgelöst ist und dessen Seiten daher einem entgegenfallen, wenn man das Buch öffnet), und labte mich an der quillenden, strotzenden, saftigen Lebendigkeit all des Grüns, das in unzähligen Nuancen und Texturen auftrat. Quickvitale Wälle aus Schönheit rahmten meine Spaziergänge, jeder Tag eine Freude, eine andersgeartete Freude. Ich beobachtete stromernde Füchse und spielende Feldhasen, geschäftige Marder, neckische Wiesel. Ich hörte die Falken und Weihen, die Raben und Goldammern, den Wind in meinen Ohren oder auch das satte, volle Prasseln des Regens. Meist war nur der Hund an meiner Seite, aber in der Natur, da vermißte ich nichts, nichts und niemanden, auch die Sonne nicht an trüben, bedeckten Tagen, weil die schweren Wolken so famose Formationen bildeten und die Farben der Pflanzen noch mehr zum Leuchten brachten und das Naß die Gerüche nur intensivierte. In Gummistiefeln zog ich durchs Moor, wo alles triefte und schmatzte und fühlte mich frei wie lange nicht.

Ein Flecken Erde, kultiviert aber nicht zerschunden von schwerem Gerät und Massen an Pestiziden, ist mir besonders teuer, egal welcher Stimmung ich bin, nach einer Runde dort werde ich ruhig, bin ich getröstet oder gar heiteren Gemüts. Seinen Reiz macht die rasche Abfolge unterschiedlicher Naturräume aus, relativ wild belassene feuchte Wiesen, Kiefernwälder, Bachläufe, Birkenalleen, Kuhweiden (auf denen seltene Rassen grasen) wechseln einander ab, jedes reizvoll für sich, zusammen ein Schatz. Ich hatte den Wagen eben erst verlassen, war vielleicht zwei, drei Minuten geschlendert, als ich einen Schemen am Himmel erspähte, die Silhouette eines großen, recht tief fliegenden Vogels, die mir fremd erschien. Verdattert hielt ich inne. Ein Bauer hatte frisch die Wiese abgemäht, in der Ferne hörte man noch den Motor an anderer Stelle arbeiten. Ich glaubte zunächst, es sei ein Greif, weil der Vogel so stattlich war, die Schwingen weit ausgebreitet. Er flog heran, drehte ein paar gemächliche Pirouetten, segelte ohne Eile über mich hinweg, ganz nah, sodaß ich ihn gut studieren konnte. Ich erkannte ihn, vermochte aber zunächst nicht, es zu glauben. Als er vorüber war, wandte ich mich um, ihn so lange fixierend, bis er meinem Blickfeld entschwunden war. Mit vierzig Jahren hatte ich erstmals (in Deutschland) einen frei lebenden Schwarzstorch ausgemacht! Die weiße Bauchdecke, das Dunkel des restlichen Körpers, der knallrote Kopf haben sich mir eingebrannt zusammen mit einer unbeschreiblichen, jähen, vollkommenen Freude. Solch eine Freude, in dieser Strahlkraft, Wirkung und Plötzlichkeit, kenne ich nur von spontanen, unerwarteten Naturerlebnissen, so sehr ich Musik, Gemälde, Architektur, Literatur liebe, nur die Natur verschafft mir diesen schlagenden Exzess an Glück und Frohsinn, Dankbarkeit, Demut. Ich fühle mich dann beschenkt, reich beschenkt, fühle mich geliebt und genau an meinem Platz.

Wenn ich also später einmal zurückdenken werde an meinen Sommer 2025, so werde ich behalten, was ich gemisst habe, mit welcher Sehnsucht und Trauer ich es herbeigewünscht habe ohne Aussicht auf Erfüllung. Ich werde aber auch, und das in erster Linie, an die vielen, vielen Vignetten in Wald und Flur denken, die bunten, duftenden, schmetterlingswimmelnden Pflanzenmauern, die Füchse und Schwalben und an den Schwarzstorch. Meinen Schwarzstorch.