293, Teil II: Man glaubt es kaum

Südkorea, März 2025.
Ich war von diesem Erlebnis derart euphorisiert-erschüttert, daß ich dachte, es sei das allererste, was ich berichten würde über Korea. Es war eine unglaubliche Geschichte, eine, die angezweifelt würde, verspottet; daß ich mich wichtig machen wolle, dieser Vorwurf durchgeisterte mich, eine Sache aufblähen, die so gar nicht stattgefunden habe, der Realität entspreche. Und je mehr Wochen verstrichen, desto weniger glaubte ich mir selbst. Einbildung, Wunschdenken, übertriebene Interpretation, die Ratio redete mir die Story aus, bis Korea an sich zur Fantasiegestalt degradierte. Nun war ich aber dort gewesen, wie Fotos belegen, so fern mir das erscheinen möge, und weshalb dann solle das andere nicht auch stimmen…? Es ist da nämlich ein nicht zu verleugnender Indikator, der mir, meinem Gedächtnis, recht gibt, und dieser ist die Angst – eine Emotion, der ich nicht oft erliege. Eher beschleicht mich zuweilen Sorge oder hege ich eine gewisse Vorsicht, neige ich zum Ausdehnen des Entscheidungsprozesses etwaiger unliebsamer Konsequenzen wegen. Aber Angst, Furcht, Panik kenne ich kaum, sie befallen mich eher in recht angemessenen Situationen, wie damals, als im schlafenden Äthiopien auf dem Hotelgelände Schüsse über Schüsse abgefeuert worden waren (vgl. Beitrag 59). Wenn ich manchmal unsinnigen Ur-Ängsten begegne, treibt mich dies ebenso in die Nervosität, sagen wir schnorchelnd Haie unter sich ziehen zu sehen, verursacht mir flaue Gefühle (vgl. Beitrag 3). Ansonsten bin ich ein Opfer meiner Wutausbrüche oder Melancholien. Nun, egal, diese Angst, in Korea, die war präsent, existent, und insbesondere war sie intensiv…
Ich hatte also beschlossen, in meinen freien Programmstunden zu spazieren. Gesättigt vom frühmorgendlichen Tempelbuffet war ich, getrunken hatte ich ausreichend. Ich trug das ultraweite, labbrige Schülergewand, das mir ständig über die Hüften rutschte, sodaß ich eigentlich immer eine Hand am Hosenbund hielt. Ich hatte zwei Sportjacken übergeworfen, einen Schal umgebunden, die Turnschuhe geschnürt, fertig. Direkt neben der Unterkunft nahm ein System ausgedehnter Wanderwege seinen Anfang, perfekt für unkomplizierte Bewegung. Nach nur wenigen Minuten gelangte man an einen pittoresken Stausee, gesäumt von urigen Kiefern. Mittlerweile war die Sonne aufgegangen, alles heiter anlachend, ein Kormoran harrte ausgebreiteter Flügel aus, Mandarinenten dümpelten auf dem Wasser. Ich ging mit weit ausgreifenden Schritten dahin, wollte meinen Puls fühlen, mich ein wenig, ein wenig nur!, verausgaben. Jetzt muß man vorausschicken, daß Korea eines der übervorsichtigsten Länder ist, das ich je bereist habe, da bleiben selbst der deutsche Bürokratieapparat und Institutionen wie der TÜV weit zurück, beinahe bevormundet und wie ein Kleinkind fühlt man sich behandelt von den bequemen Bohlenwegen, natürlich mit Geländer versehen (über x-lange Kilometer hinweg!) und von Schildern im 50-Meter-Abstand gepflastert, koreanisch beschrieben, gelegentlich englisch übersetzt, aber was sie meinten, zeigten ohnehin überdeutliche Comic-Illustrationen mit niedlichen, Sprechblasen produzierenden Kragenbären, Vorsicht Rutschgefahr, Achtung Steinschlag, Passen Sie auf sich auf, Langsam, Obacht unebener Weg und so weiter, die Palette war schier unerschöpflich. Manche der Schilder warnten sogar vor wilden Tieren wie etwa besagtem Kragenbären, einer rare, fast ausgestorbene Spezies. Ich hielt das für absurd unwahrscheinlich, einem zu begegnen, es sei denn, es locke sie das Futter, d.h. picknickende Familien, wie man es in den USA und in Kanada von den Braun- und Schwarzbären liest. Außerdem hatte man nicht mit Wegweisern samt Kilometer- und Zeitangaben gespart, weshalb ich nach Lust und Laune Routen einschlagen konnte, ohne zu befürchten, mich hernach zu verspäten. Schon wieder Luxus pur!
Es zog mich hinauf. Als sei ein Magnet angedockt, meine Beine wollten laufen, obwohl es sehr, sehr steil war, es kaum ebene Passagen zum Verschnaufen gab. Rasch wich der Kühle des Morgens mein überhitzter Organismus, der Schweiß trieb mir aus allen Poren, und das Herz hämmerte irgendwo im 200er Bereich; ich schalt mich für meine mangelnde Kondition, meine Sportfaulheit daheim, daß ich dem Altern nicht Vorschub leiste. Ich hatte den malerischen See mit dem Ambiente eines Kurortes längst hinter mir gelassen, war von den Bohlen abgekommen, auf ansteigende Pfade gewechselt, die häufig von teuren Treppenkonstruktionen ersetzt worden waren, wo man vom Wanderer Trittsicherheit nicht verlangen wollte. Es war eine technisch deppenleichte Tour, die durch den massiven Grad der Steilheit, und zwar konstant, wesentlich erschwert wurde physiologisch. Ich befand mich in den Bergen, im Wald; um genau zu sein, war ich wie gefangen zwischen den Baum bewachsenen Wänden dieser Berge, unter – manchmal neben – mir die flußdurchschlängelte Schlucht. Das Wasser schäumte gurgelnd talabwärts, Gerüche von feuchtem Gestein aufwehend. Das fehlende Laub, das omnipräsente kahle Geäst störten mich kaum mehr, denn nun hatte ich die Erde unter den Füßen, die Luft in der Lunge, ich konnte laufen, frank und frei, vernachlässigte man den lästig rutschenden Hosenbund und die weiten Beine, die mich zuweilen stolpern ließen. Ich bereute allmählich, keine Trinkflasche mitgenommen zu haben, kein Handy für Fotos, nur der Zimmerschlüssel klimperte in der Jackentasche. Zuweilen bin ich minimalistischer als mir bekommt, na ja. Ich war glücklich inmitten der koreanischen Natur, trotz des über-gepflegten idiotensicheren Weges, der den Abenteuergeist etwas dämpfte. Ich hatte ja auch keine Wanderstiefel an, das war schon gut, wie es war. Die vier Kilometer puren Aufstieges neigten sich ihrem Ende zu, Schilder sei Dank, wurde ich informiert. Mir fehlten noch zweihundert Meter bis zum Plateau. Ich schnaufte wenig elegant wie ein Walroß, war froh, daß es dafür keine Zeugen gab; ohne Spiegel wußte ich, daß mein Gesicht puterrot war, ich keuchte, während der Herzschlag in den Ohren trommelte, heftiger als das Morgengeläut.
– Es zerriß mich fast vor Schreck. Unvermittelt ertönte ein langgezogenes, fremdartiges Geräusch, hoch beginnend, rasch tiefer werdend, so dunkel grollend, daß ich glaubte, mich verhört zu haben. Ich war hellwach, jede Faser meines Körpers abrupt angespannt. Ich wollte mich gerade bewußt atmend – Yoga Flow – beruhigen, als es ein zweites Mal erklang, exakt wie zuvor, ein dupliziertes Echo. Langgezogen, hoch, abfallend, sich in einem höllenhaften Gurgeln ausrollend. Es stammte definitiv nicht aus der Ferne, der Charakter eindringlich gegenwärtig. Das war der Moment, wo ich wirklich mit umgehender Wirkung Angst hatte! Ich stierte auf die nahen, mich dicht umfangenden aufschießenden Wände, stierte auf blanken Fels, auf Gesträuch und dürre Bäumchen, nackt, was sonst. Wie machte ein Kragenbär? Denn vor meinem inneren Auge ploppten die Warnschilder auf, die putzigen Comictierchen, die mich unten am Stausee noch hatten amüsiert. Ich blieb, wo ich war, mitten auf den Steinstufen des Weges, weil zu verstecken nichts war, versuchte, nicht aufzufallen, wem immer! Dann kehrte mein Verstand zurück – wo bitte sollte ein Kragenbär hier leben?? Es war viel zu wenig Grund ringsum, bloß spärlich bestandenes Gestein in kuriosem Winkel, unbequem für ein großes Tier wie einen Bären. Ich schalt mich für meine Torheit, marschierte los. Das erwähnte Plateau erlaubte noch immer nur eingeschränkte Blickachsen, alles war verschachtelt, wie in die Bergketten hinein verkeilt. Mir fiel bloß dichtes, immergrünes Bambusgebüsch auf, überkniehoch, und der Fährtentunnel darin… Quatsch, Fährte! Bedürftige Wanderer werden es gewesen sein, die ihn geschaffen haben, irgendwo muß man halt mal Pippi, ich trat näher heran. Das Bambusdickicht klebte förmlich am Gestein, gleich dahinter, kaum ein Meter, fiel es quasi senkrecht ab – kein guter Ort für einen Toilettenstop. Egal.
Ich wähnte mich am Gipfel, bis ich einer Biegung folgte und ein spektakuläres Gebilde sah: einen über alle Maßen megagigantisch riesigen rötlichen Felsbrocken, eiförmig und auf der Spitze balancierend, umringt von einem Korsett simpler, metallener Stufen. Ok, das war dann doch etwas Abenteuer für jemanden, der nicht ganz schwindelfrei ist. Memme!, schalt ich mich. Rauf mit dir, so kurz vor dem Ziel! Es wackelte arg hinauf, nicht das Geländer, das saß, aber meine Knie. Um ehrlich zu sein schlotterten sie. (Nun, ich bin wohl ängstlicher, als ich eingangs behauptet habe.) Der Scheitel des Felseneis war ebenfalls mit einem Metallgeländer versehen, eine schlichte Querstange, ziemlich niedrig, wenn man mich fragte. Ich war sozusagen am Gipfel angelangt, wenngleich dies eine Untertreibung ist. Nie zuvor, nicht in den Simienbergen, nicht in der Negev, nicht am Annapurna Basecamp, nirgends hat sich mir je ein solches, dreidimensionales Panorama entfaltet. Ich stand ja auf einem elliptischen Gebilde, sodaß ich keine abfallenden Wände mehr ausmachen konnte; es war, als schwebte ich mitten in der Luft, unter mir nur wenige Meter rostfarbener Stein (wenn das nicht für Däniken wäre!!). Rings um mich her, jedoch in der Tiefe, breiteten sich Layer für Layer Berge aus, ausladende Berge voller Bäume, Millionen von Bäumen. Kein Haus, keine Siedlung, keine Straße, nicht einmal Lichtungen, da war einfach endlos weiter, wilder Bergwald. Daß dort Kragenbären leben mochten, das stellte ich mir durchaus vor…
Irgendetwas blinkte golden auf, ein Pünktchen links hinten. Ich kniff die Lider zusammen, eine Brille hatte ich freilich nicht mit (und wie durstig ich war!). Um den Goldpunkt herum gruppiert erkannte man mehrere Strukturen, und ach, dort lag ja der Stausee… Der Stausee? War das Golddings etwa die sieben Meter hohe Buddhastatue des Tempels, war das winzig-mickrige Gebilde wohl bitte nicht der Tempel selbst?? Und in weniger als zwei Stunden sollte ich zurück sein! Ich hatte ein Handy wie erwähnt nicht mit, Bescheid zu geben, und zwar schon einzig aus dem Grund, weil ich kein teures Roaming verbraten wollte, zehn Euro pro Tag, das summiert sich bei vierzehn Tagen… Kapiert? Eben. Also stand ich ohne irgendetwas auf einem Doyle´schen Dinosaurierei (namens Munjangdae) im späten Winterwald eines koreanischen Gebirgszuges mit der krassesten 360-Grad-Aussicht meines Lebens und mußte ohne Beweisfoto hinunterhechten, d.h. den Pfaden folgen so schnell als möglich, gachen Pfaden, die meinen Graus vor Abstiegen nicht gerade besänftigten, eine Hand am Hosenbund, denn der rutschte ja nach wie vor. Als ich endlich die drei Kilometer ebener Strecke erreichte, joggte ich manche Abschnitte, bis ich um 10.25 Uhr die Unterkunft erreichte. Unser Guide kam mir entgegen: „Teezeremonie!“ rief sie fröhlich, eine hübsche einheimische Mittvierzigerin. „Wie?“ fragte ich unverständlich. „Planwechsel. Statt elf Uhr Spaziergang machen wir halb elf eine Teezeremonie mit einer der Nonnen.“ „Du meinst in fünf Minuten?!?“ „In fünf Minuten!“ nickte sie, mich anstrahlend. Ich hatte just eine Bergtour von vierzehn Kilometern und drei Stunden hinter mir, aber erlesenen grünen Tee in meditativer Atmosphäre wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ich wunderte mich währenddessen nur darüber, daß sich kein anderer sonst über mich wunderte, war ich nicht verschwitzt und verausgabt? Haftete der Bergwald nicht noch an mir, die weite, wilde Natur? Merkte man mir die Euphorie über die herrliche Sicht nicht an, den Schrecken über ein nicht identifizierbares Geräusch? – Der Tee schmeckte zart und exquisit, krautig-frisch. Die Nonne mit kahl geschorenem Schädel, gekleidet in Mausgrau, leuchtete vor Frieden und Lebendigkeit.
Einige Tage später, längst weitergereist, saß ich bei einer Hügelgrabanlage aus dem sechsten bis achten Jahrhundert (sogenannte Silla-Zeit) in einem gemütlich-lässigen Café westlicher Prägung, an Wassermelonensorbet nuckelnd, Scones zu Erdbeermarmelade speisend, irgendwie unpassend. Nicht der Gräberstätten wegen, sondern weil es eigentlich doof war, in Korea britisches Süßgebäck zu naschen. Kayia, unser Guide, und ich kamen prima miteinander aus, wir waren etwa gleich alt und kulturell interessiert. Durch ihren Beruf tingelte sie ordentlich herum in der Weltgeschichte, auch in Europa, wo sie dann beispielsweise koreanische Gruppen durch Wien oder Venedig führte. Entspannt gönnten wir uns eine Sightseeingpause (welche ich zwar nicht benötigte, dafür umso mehr das Koffein meines Cappuccinos). Ich hatte Gelegenheit, von meiner kleinen Wanderung am Beopjusa Tempel – eingebettet in den Songnisan Nationalpark – zu erzählen und von meiner Geräuschbegegnung. Ich wollte wissen, ob sie mir sagen könne, was das gewesen sei; sie würde ganz sicher nicht Kragenbär sagen. – – Sie sagte auch nicht Kragenbär. Sie sagte: Koreanischer Tiger, ganz fröhlich sagte sie es, und ich dachte an den Fährtentunnel im überkniehohen Bambusdickicht und an diese eigentümlich spitze, instinkthafte Angst, die mir die Nackenhaare aufgestellt hatte. Daß der Winter lang sei heuer und Dürre herrsche obendrein und daß sie Hunger hätten und auf der Suche seien. Aber doch bitte gewiß nicht auf einem holzbohlenverkleideten, mit Geländer gesicherten Touristenpfad? Ich sah vor meinem inneren Auge das außergewöhnliche Felsenei, die sich wie Fangarme ergießenden Bergflanken, in alle Richtungen grabend, an die Abermillionen Bäume. Theoretisch ein Paradies für Großkatzen, um dort klammheimlich durch die Gegend streifen. Und naive Touristenfrauen zu erschrecken.
Wenn man im deutschsprachigen Internet googelt, erzielt man fast keine Treffer, und die mickrigen paar, die man aufspürt, widersprechen sich. Koreanischer Tiger und Sibirischer Tiger seien identisch, 1000 Tiere existierten weltweit noch, Zoologische Gärten eingerechnet, vom Aussterben schwer bedroht. Manche Quellen behaupten, der Tiger sei vor Jahrzehnten aus Korea verschwunden, andere hingegen berichten von Wiederansiedlungsprojekten und angeblichen, nicht dokumentierten Sichtungen. Nein, das war kein Tiger. Angsthase, ich und Depp obendrein! Auf dem Weg zur Salzsäule zu erstarren, dämlich. Ich surfe auf Youtube, will ein Video sehen mit seiner Stimme drauf. Ich tue es im Hotelzimmer in Seoul, mitten in der Megacity, auf dem Bett im Schneidersitz hockend. Ich klicke auf Play, schnaube genervt auf vom lästigen Werbefilmchen, bis ich den Tiger im Gehege sehe. Er öffnet das Maul. Das Maul öffnet sich. Mir gefriert das Blut in den Adern, stelle das Atmen ein; ich erstarre, gefangen von Furcht, die Panik zu nennen ist. Ich zweifle nicht den Bruchteil einer Sekunde. Ich weiß es. Ich weiß, daß ich das gehört habe, halb neun morgens, kurz vor dem Gipfelplateau, unweit von mir. Und ich weiß, daß mir das keiner glauben wird, nie! So wie ich weiß, daß auch ich mir das nicht werde glauben können langfristig. Tatsächlich habe ich niemandem davon berichtet; aber immer, wenn ich mir die Youtube Videos ankucke, nicht oft, damals in Korea, dann kurz danach zu Hause, jetzt zum Verfassen des Blogtextes, immer wenn das Geräusch ertönt (das eben aus einer Tigerschnauze dringt), halte ich unwillkürlich den Atem an, von schlagartiger, gewisser Angst gepackt. Doch, es stimmt. Ich hörte es in den Bergen Koreas, hörte sein Rufen. Und eigentlich, so im Nachhinein, war es wunderschön. Ich hätte ihn gerne gesehen, den Tiger, so wie er vermutlich mich.
Illustration zeigt einen Gipfelblick im Seoraksan National Park
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