290 Vom Können eines Fremden

290 Vom Können eines Fremden

München, April 2025.

Da mir die Konzertabende und das Herrichten dafür so viel Freude bereiten, schlenderte ich nach dem Kontrolltermin bei der Phlebologin – meine Beine sahen aus, als hätte sie mir jemand verprügelt, großflächig amorph blau und grün und lila verfärbt, übersäht mit ein Dutzend kreuzförmigen Pflastern, wo die OP-Schnitte lagen – spontan in ein Bekleidungsgeschäft für Anlaßmode schräg gegenüber der Praxis. Ich suchte ein Jäckchen, das ich über ein dünnes gerüschtes Volanthemd ziehen könnte, eigentlich mich zu verstecken. (Mir wird gerne unterstellt, ich wolle auffallen, amüsant, denn ich kuratiere äußerst sorgfältig, womit ich am besten die Makel kaschieren kann, echte wie empfundene.) Was mir vorschwebte, war nicht vorrätig bzw. mehr erhältlich in meiner Größe. Ich sprach den in Abstand geduldig wartenden Verkäufer an, der mich freundlich beriet. Er reichte mir einen zarten Wickelblazer in dunkelstem Aubergine, fast Schwarz, fließend und glänzend, dazu die passende Hose, weit und gerade geschnitten. Es wirkte an mir wie klein Doofi mit Plüschohren, wie die dickliche, ungelenke Krabbe, die immer noch in mir schlummert, denn eine Adipositas wird man nie los, auch nach einem viertelten Jahrhundert nicht, die hockt im Kopf. Der Verkäufer schnappte sich ein Stück des Stoffes oberhalb der Armbeuge, ihn mit einer Nadel fixierend, und dieses am Bein wiederholend, auf Höhe der Kniekehle. Plötzlich umwehte die Krabbe ein Hauch dezenten Stils, verblüffend.

Obwohl es ein recht ungewöhnlicher Mann war, musterte ich ihn nun zum ersten Mal eingehend. Groß und aufrecht war er und sehr schmal, feingliedrig in allen Proportionen, angetan mit Silberschmuck: Reifen, Ringe. Die Nägel – jeder einzelne davon – geschmückt mit einem wie tätowierten Punkt auf der Mitte des Halbmondes. Das Haar trug er etwa schulterlang, es war gelockt. Natürlich hatte ich beim Betreten des Ladenraumes bemerkt, daß er meiner Novellenfigur ähnelte, wie damals in Brüssel schon der Restaurantkellner (vgl. Beitrag 265) oder auch jener Harfenist des Zisterzienserinnenspiels (vgl. Beitrag 287), und genau deshalb hatte ich mir Blick wie Gedanken verboten. Keine Gefühle aufkommen lassen, nie; sich bedeckt halten; reserviert bleiben, Distanz halten, innere vor allem. Der einzige Mensch, von dem ich wirklich weiß, daß er nicht schlecht über mich redet, wenn ich abwesend bin, ist ein Junge aus dem Dorf mit einer Störung des Autismus-Spektrums, eigentlich über zwanzig Jahre alt, im Wesen aber kindlich und ehrlich, geradeheraus, direkt. Schlechte Laune hat er manchmal, dann gibt er sich abweisend, meist aber strahlt er mich an, mir in die Augen blickend, die Hände reichend, plappernd. Daß er einen Luftballon wolle, den ich ihm bitte vorbeibringen möge; daß er den Hund halten wolle; wann wir wieder um die Wette liefen im Wald, solche Sachen. Er ist der einzige Mensch, dem ich vertraue, daß er mich nimmt, wie ich bin. Der nicht lästert, krittelt. Und der er selbst ist, ohne Wenn und Aber, der sich weder verstellt, noch ein anderer zu sein wünscht. Ja.

Der Verkäufer jedenfalls verhielt sich sehr respektvoll mir gegenüber, einfühlsam. Fachmännisch steckte er die gesamte Anzugkombination ab, ein Maßband zur Kontrolle hantierend. Die Nähe war mir unvertraut. Die stämmigen Teile meiner Silhouette nannte er freundlicherweise „Sanduhrfigur“, worüber ich lächelte. Profi durch und durch! Sollte er etwas verächtliches oder abwertendes gedacht haben, so war es ihm nicht anzumerken. Ich kuckte auf die auberginenseidene Frau im Spiegel, die plötzlich etwas geheimnisvolles an sich hatte, die war doch tatsächlich zurückhaltend elegant und ein wenig mysteriös – was ein paar genähte Bahnen Textil alles vermögen…! – Ich tat daheim etwas, was ich sonst nie tue: ich googelte den Namen, der auf die Visitenkarte gedruckt war, ohne sonderlich viel herauszukriegen, da ich selbst auf keinerlei Portalen gemeldet bin und potentielle Treffer mir nicht zugänglich gemacht werden. Fachschule für Schnitt und Entwurf, entdeckte ich irgendwo verlinkt. Und genau das war es gewesen, was mich – neben dem Style – derart fasziniert hatte: sein Können. Ich finde echte Kompetenz, vorzugsweise gebettet in Understatement, wirklich ausgesprochen sexy. –

Nächste Woche ist der Termin zur Anprobe und Abholung der umgeschneiderten Ware. Da werde ich mich dann verabschieden von meiner Novellenfigur, die den echten Menschen, den mir Fremden, überlagert. Einmal noch eintauchen in ein zugewandtes Gesicht, in respektvollen Ton und Hände, die in wenigen zielsicheren Griffen aus einer ungelenken Underachiever-Krabbe eine Glamour-Autorin zaubern – welch ein Talent!