285 Ruhestörung

285 Ruhestörung

München, Oktober 2024.

Seine Hände tanzten von einem breiten Strahler beleuchtet über die Klaviatur, oft so schnell, daß die Bewegungen verwischten zu warmgoldenem Staub, zu blinkenden Schlieren im Saaldämmer, das nach altem Theater roch und nach Wolken unglücklich gewählten Parfüms. Am rechten Bühnenrand war auf einem kleinen Kelim ein Arrangement drapiert aus Kupferkannen und scheußlichsten Baumarkt-Chrysanthemen – exakt die gleiche Dekostaffage, die mir ein dreiviertel Jahr zuvor als Ankerpunkt gegen die Langeweile gedient hatte (vgl. Beitrag 266). Die Erfahrung über zig Veranstaltungen hinweg hat mich mir treffsicher den besten Platz online sichern lassen, ich saß ihm exakt gegenüber, das feine Profil mit der leicht vorspringenden Oberlippe im Blick, die seinem Gesicht etwas interessantes, etwas äußerst hübsches verlieh, und natürlich hatte ich ungehindert freie Sicht auf diese meisterlich wirkenden Finger, so zierlich, beinahe zerbrechlich, als seien es die eines Kindes.

In der Pause hatte ich den verlassenen Innenhof betreten, wo gelb apart das Linden- und Kastanienlaub lockende Haufen bildete am Boden. Zu gerne wäre ich mit den Kitten Heels hindurchgestieben, juchzend! Ich sog tief die kühle Luft ein, die mich nicht frieren machte, obwohl ich nur dünne Seide trug. Stumm stierten mir die weißen Stuckmasken entgegen, die an der Fassade des Seitenflügels ewiglich ihrer Bestimmung harrten, eingefroren wie die Gesellschaft im Dornröschenmärchen. Ich schlenderte zum rechteckigen Zierbecken, in dem glasklar das Wasser lag, zuweilen Blätter an der Oberfläche tragend, Ahornzacken. Fünfeckige Nuggets, amorphe Barren, hypnotisiert stand ich da, während der Wind an mir rüttelte und der spitze Nieselregen mir in die Wangen piekte. Für Sekundenbruchteile brandete sie auf, jene freiheitserfüllte Freude berückender Momente.

Seelisch erfrischt kehrte ich zurück zum Rest des Publikums, mit dem ich nichts gemein hatte als eine Konzertkarte für die Matinée im Prinzregentheater.

Das Geplapper in meinem Kopf stand nicht still. Es überlegte darin, analysierte, deutete das Unverständliche. Es erkannte wieder, betrachtete das bronzen schimmernde Untere des aufgeklappten Flügels, in dem die Saiten sich spiegelten wie in einem Braque´schen Gemälde.

Zum zweiten Mal also hörte ich diesen Mann spielen, dessen Biografie ich im April gelesen hatte, sieben Jahre jünger als ich und Universen an Reife und Tat, Können und Sein entfernt. Das Ego möchte immer wichtig sein, will sich einmischen und darstellen. Ich versuchte, die verschmitzt glänzenden Augen zu erhaschen während der Applausverbeugungen, aber selbstredend gelang es nicht. Ray Chen damals, der Geiger, hatte mit einem hübschen Mädel in einer der vorderen Reihen geflirtet, und es war überglücklich gewesen und ich Beobachtende mit ihm. Im Grunde habe ich mich nie damit abgefunden, bloß ein Teil der Pinguinkolonie zu sein, ein Publikumsatom, nichts relevantes, nichts wahrgenommenes, auch wenn ich an anderer Stelle genau dies behauptet hatte vor mir selbst (vgl. Beitrag 12).

Was, wenn ich aufgestanden wäre, die zwei, drei Meter zurückgelegt hätte und einfach eine der Tasten gedrückt, mitten in die virtuose Versenkung hinein? Lebenslanges Hausverbot und eine Anzeige wären mir sicher gewesen, Buhrufe, allgemeine Empörung. Ich wunderte mich über meinen Gedanken, wie mir dergleiches in den Sinn geriet. Eine Grenzübertretung, jene des Anstandes, Respektes, der Moral. Kunstzerstörung, denn es war ganz große Kunst, die ich gerade lauschend bezeugte, und es bedurfte immenser Anstrengung, nicht einfach loszuheulen vor Ergriffenheit, vor Rührung. Ich wünschte mir, er spielte nur für mich, mich ganz allein, von mir aus in einem Übungszimmer, bloß die live vorgetragene Klaviermusik und ich, mit geschlossenen Lidern horchend, was die Töne und Rhythmen anstellten mit meinem Inneren ganz ungestört von diesem permanenten trockenen Hüsteln und kratzenden Räuspern, die das Konzert begleiteten wie das Knarren eines hölzernen Schiffes auf hoher See, untermalt von eingehenden Nachrichtentönen: Piiiiiinnng!!, als sei es ein Duo aus Klavier und Triangel. Was, wenn ich aufgestanden wäre und hinein gegriffen hätte in die Tastatur? Poltergeist des Theaters, Poltergeist der Gesellschaft, Unruhe stiftend, rumorende Rebellion anzettelnd?

Dann hättest du mich angekuckt, ein einziges Mal wenigstens, hättest Notiz genommen von mir. Und ich hätte gesagt: “Hallo.” Denn Hallo ist so ziemlich das schönste, was man einem Fremden sagen kann, dem man viele, viele Fragen stellen möchte über Musik und Mathematik, Spaziergänge, Kirchenbesitz, KI, Gewohnheiten, Vorlieben, Arbeitsweisen. Hallo. Hast du das Lindenlaub gesehen? Den Regen vorhin auf der Haut gespürt? Was fühlst du, jetzt wo du die Mondscheinsonate spielst?

 

Danke, daß ich dir zuhören durfte.

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