266 Sickerndes Ennui
München, Januar 2024.
Ich hatte zu konstatieren, daß ich offenbar weniger kultiviert war als angenommen. Höchst dankbar war ich für das Gesteck auf der rechten Seite der Bühne – hätte ich eine Karte für die linken Reihen gewählt, der Himmel weiß, wie ich die Konzertstunden durchgestanden hätte… So gab es etwas, das meinen Blick gefangen hielt und es ihm gestattete, umherzuwandern: eine orientalische Vignette, erstellt aus zwei kupfernen Gefäßen à la Turquoise auf einem Kelim drapiert, darin opulente Mimosenzweige staken, etwas Eukalyptus und eine einzelne Rose. Wie zitronenfarbiger Schnee quollen die feinen Blüten in den abgedunkelten Saal nieder, der erfüllt war von den Klängen zweier Piani, welche sowohl nebeneinander als auch sich gegenüberstehend ausgerichtet waren und dröhnten und bebten unter Brahms, Mozart, Reger. Das Publikum tobte und toste zwischen den Stücken. Live hatte ich noch keine reine Klavieraufführung besucht und vermißte nun das Orchester, vom Höreindruck her, gleichwie um etwas zu studieren zu haben, Lichtglanz auf geschellackten Violinen etwa, das Zusammenwirken verschiedener Instrumentalisten, sogar deren Gewand und Frisuren. Mir blieben in dieser dritten Reihe nichts als warmdunkler Theatersamt, das Handspiel eines der beiden Musiker (das andere war vom Flügel verdeckt) und die frühlingshaften Mimosen. Eine Rezension der New York Times hatte mich angelockt, eine Bravourhymne, selbst derart poetisch und sinnlich verfaßt, daß ich eingefangen war und den Gehuldigten unbedingt erleben wollte. Mich dünkte, das Steinway & Sons ächzte unter der Beanspruchung, die Melodien polterten mir ungehobelt ans Ohr, wobei ich Rüdes, Raues, Ungefälliges wie etwa Schostakowitsch durchaus als erhebend empfinde. Das hier aber, das war nicht meins, dafür war ich nicht gebildet genug, und während die Zuschauer des Saals sich in Begeisterung auflösten, frenetisch jubelten, hangelte ich mich von Komponisten zu Komponisten, erleichtert über die kurze Pause zwischendurch, mich zum zweiten Teil wieder auf meinen Platz zwingend, das Konzert wörtlich aussitzend.
Eine Langeweile war in mich eingesickert. Eine schmerzhafte, klammernde Langeweile, die einem die Luft abschnürt und eine Spannung erzeugt, welche einen glauben macht, man sei ein in einer Box gefangenes Springteufelchen. Eine unruhige, nervöse Langeweile, die andererseits lähmt und alles grau und fade zeichnet. Ich hatte das öde, schale Dorf verlassen, um mich zur Abwechslung an einer Matinée zu laben, nur um vom Regen in die Traufe zu gelangen. Ich ängstigte mich über dieses zähe, dröge, uninspirierte Gefühl, das nicht einer bestimmten Situation geschuldet war – etwa ein nicht den persönlichen Geschmack treffendes Konzert -, sondern eher in eine Lebenslangeweile ausartete, etwas das ich beschönigend Ennui nenne, es verniedlichend, intellektualisierend. Wenn man es aufrichtig auf den Punkt bringen möchte: ich bin durch und durch gelangweilt, von allem und jedem, nicht phasenweise, nein, es handelt sich um einen permanent latent präsenten Zustand der – und jetzt kommt das Arrogante daran – Unterforderung. Die Lockdowns sind passé, der mangelnde Input verblieben. Das Fesselnde, Neue, Frische, Andersartige, das Überraschende, Erfreuende, Stimulierende, Erhebende, Faszinierende, die Leidenschaft und die Neugier haben sich dauerhaft aus dem Staub gemacht, die Liebe.
Ich kann doch nicht jedes Mal nach Japan aufbrechen, nach Brüssel, in die Arktis oder sonstwohin, wenn sie mich im Würgegriff hält, die Langweile, die nichts zu tun hat mit Tatenlosigkeit oder fehlender Beschäftigung… Ein kaschierter Ruf, der leise nach Freiheit schmeckt, nach Weite, Würde, Respekt. Es ist nicht die Langeweile an sich, vor der ich mich fürchte, es ist ihr treues Gefolge aus generellem Desinteresse, Inaktivität, einer Empfindung der Gleichgültigkeit, der Ohnmacht, ein Abstumpfen emotional, geistig. Ein Abhaken von Tagen, einer geschafft und wieder einer und, puh, auch der vorüber, endlich.
Und immer wenn ich meine, jetzt gibt es keine Hoffnung mehr für mich, dann überrascht mich irgendetwas, indem es mich zum Weinen bringt, tief, ganz tief rührt, berührt, erschüttert; keine Weltgeschehnisse, keine Dramen, nein, profane Kleinigkeiten. Das erste der zwölf Gedichte eines Abos (vgl. Beitrag 262), morgens gelesen im Badezimmer, und bei der Anfangsstrophe schon heule ich Rotz und Wasser: “Du kannst flüstern./ Du kannst brüllen./ Ich höre, was du sagst.” (Max Prosa). Oder schlicht vor dem Fernseher, wo Arte in Concert läuft und die einzigartige kratzend-quäkende, grollend-quietschige Stimme Asaf Avidans (von sich selbst begleitet auf der Gitarre und der Mundharmonika) mir in „No Stones Unturned“ von Sehnsucht erzählt und mich trifft wie ein Faustschlag, ein Lied wie ein ein Schütteln, ein Packen an den Schultern, der Sänger jemand, der mich gewaltsam wachrüttelt, hinauswirft aus der resignierten Lethargie. Eine Mahnung von Künstler zu Künstler (man verzeihe mir die Verwegenheit; ich habe es mir nie bewußt ausgesucht, das Schreiben, es war immer da, von Kind an, und wenngleich ich nicht publiziere oder eine Leserschaft aufbauen werde oder irgendeine Form der Meisterschaft erreichen, dieser innere Drang ist nicht auszurotten – so komme ich dazu, mich mit dem großen Wort “Künstler” zu schmücken, es doch bescheiden meinend, zurückhaltend).
Eine Kerze verströmt Zedernduft, mein Lieblingslied von Ludovico Einaudi, „Ancora“, steigt mit dem flutenden Sonnenlicht auf im Raum, den Strauß streifend aus zartlila Strandflieder und romantisch malvenfarbigen Rosen. Es gibt ja Leute, die einhundertzwanzig Tage hintereinander ebenso viele Triathlons absolvieren (ein aktueller Weltrekordsversuch). Wäre mir persönlich, die ich bisher nicht einen einzigen Triathlon gewagt habe, zu langweilig.
Brahms?, fragte meine Mutter, nachdem ich ihr meinen Klavierflop gestanden hatte. – Ich habe einmal meinem Vater eine Kassette mit Brahms´scher Musik geschenkt. – Und?, wollte ich wissen, die ich meinen Opa nie kennengelernt habe. Ach, sagte Mama, geschimpft hat er mich. Wie ich dazu komme, ihm solch eine Kassette zu schenken. Und dann habe er ausgerufen: “Hast du dir die mal angehört?!” Nein, hatte sie nicht. Mama und ich lachten schallend. Da habe ich wohl etwas mit Großvater gemein, durch und durch unkultiviert in diesem Punkt.
Die aufheiternde Anekdote blies es ein wenig zur Seite, das lästige, hartnäckige Ennui, das ich mit allen Mitteln zu bekämpfen versuche. Der Mensch ist keine Insel, ich aber zu meinem eigenen Archipel geworden. Ob jemand wagt, es anzunavigieren, wagt – und vermag? Am Ende meines Lebens dann werde ich es wissen.