63 Kompliment

63 Kompliment

Irland, Juni 2014.

Im nördlichen Nirgendwo war ich weit geschlendert, um den Meeressaum, das eisige Naß, das sanfte Schwappen zu finden, welches die Ebbe hinfortgesogen hatte. Im feuchten Sand lagen kleine tote Krabben und gelb-weiß oder violett gebänderte Muscheln. Ein Strandläufer piepte mich aufgeregt an. Er zog seinen Radius beharrlich um meine Gestalt, innehaltend, schnell weiter flitzend, rufend, der ganze Vogel eine einzige Aufgebrachtheit, Empörung. Noch während ich mich über sein mutiges Verhalten wunderte und die Kamera sinken ließ, entdeckte ich sein Gelege. Dreißig Zentimeter von meinen Füßen entfernt ruhten vier Eier in einer erhöhten Mulde aus Tang. Ich zog von dannen, das Elterntier nahm flugs Platz, die Schalen weiter zu bebrüten. Ich war endlich am Rand des Wassers angekommen. Die schwache Brandung raunte kaum, in der Ferne schälten sich Steilklippen aus dem Dunst, grüne Weiden, eine Ansammlung weißer Häuser. Einmal mehr war ich angelangt an einer Küste, einer Trennlinie von Landmasse und Ozean, von meinem Leben und jenem meines Vorbildes, von Existenz und Tod. Keine Menschenseele bevölkerte die grasbewachsenen Dünen, der Wind säuselte mir in die Ohren, die Luft war frisch, die Sonne langsam am Sinken. Vereinzelt zogen heiser kreischende Möwen vorüber. Ich war auf mich gestellt, das Meer ein Versprechen, ein Abenteuer, das große Unbekannte, die eine, alles verzehrende Sehnsucht. Das Meer war eine Chance, ein Ruf, eine Passion. Es war mein Held, der mich im Stich gelassen hatte, war meine Schwester, die ihrer Grausamkeit erlegen war. Gezügelt, harmlos rollten winzige Wellen an mich heran. Die Weite. Die Leere. Die Einsamkeit, ein Fluch, ein Segen. Längst hatte ich begonnen, zu weinen; keine stillen, leisen Tränen, sondern ein Schluchzen, tief, laut, heftig, das das Gesicht zu einer Grimasse verzieht, die Haut rötet und aufquillt, das den Schmerz durch alle Poren hinausschwappen läßt, sodaß er jede Faser des Körpers erreichen kann, vom Herzen, der Seele, aus dem Bauch heraus in die Finger und Zehen und Haarspitzen. „Du blöde Kuh!“ rief ich, nicht mit voller Kraft, eher halblaut. „Ich vermisse dich!“ Die Worte verblüfften mich. Ich hatte sie nie zuvor ausgesprochen. Ich hatte nie zuvor Worte an meine Schwester gerichtet, nicht außerhalb nächtlicher Träume. Sie flatterten im Wind, jagten hinaus, auf den blauen Horizont zu. Ich setzte mich nieder, ungelenk, in den kühlen Sand und weinte weiter und wußte, daß es die Wahrheit war, Unumstößlichkeit; daß es ein Fakt war, etwas das man nicht umkehren oder ändern konnte. Der Tod geht keine Kompromisse ein. Er ist. Weg. Sie war weg. Nein: sie ist weg. Der Tod ist kein unheimlicher Sensenmann, kein in Fetzen gehülltes Skelett mit dunkel glühenden Augenhöhlen. Keine Uhr, die anhält. Und weil der Tod kein grauenerregendes Monster ist, kein konkretes Wesen und sich nur darin äußert, daß man eine bestimmte Person nie wieder sehen, hören, spüren wird, so vergessen die Leute ihn leicht, schnell und gerne und man steht vollkommen allein da mit den Erinnerungen und der Trauer. Das Umfeld setzt voraus, daß man geblieben sei, wer und wie man gewesen war zuvor. Niemanden konnte ich fragen: bin ich denn noch Schwester? Oder bin ich keine Schwester mehr? Was kann ich noch wollen? Was zählt noch, hat seine Wichtigkeit behalten?

Wogendes Wollgras. Hunderte pinker Knabenkräuter. Endlose Wiesen gelben, süß duftenden Klees. Schroffe Felsen. Papageientaucher, eine Kegelrobbe, Trottellummen. Abfallende Granitwände. Und Ozean, immer wieder Ozean. Von einem Aussichtspunkt herab blickte ich hinaus aufs Meer und die vage Küstenlinie, dabei einen Gruß aussendend an einige Menschen, die ich nie wieder sehen würde, als sei das Wasser ein Leiter für meine Gedanken, Botschaften. Ich sann über meine Schwester nach, ihre Liebe für Neptuns Reich. Der Wind fegte durch meine versteinerte Seele, meine Wangen fühlten sich erfrischt an. Ich befand mich im nördlichsten Irland. Frei. Ja, Freiheit stieg auf und legte sich über mich, ich verschmolz mit der Szenerie, und es gab für eine kleine Weile keine Häßlichkeit und keinen Schmerz mehr auf der Welt, nur mich und das Meer, beide eins werdend, bis auch dieses Erleben sich allmählich auflöste und ich zurückkehrte zum Rest der Gruppe.

Einer der Teilnehmer sah mich merkwürdig an. „Ich muß schon sagen,“ meinte er schließlich, „diese Landschaft steht dir ausgesprochen gut!“ Es war das schönste Kompliment, das ich jemals erhalten habe.

 

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