28, Teil I: Erkenntnis
Deutschland, Oktober 2018.
Die Bedienung stellte drei schlanke Likörgläschen auf den Tisch, gefüllt mit zierlichen Kügelchen, die definitiv nach beschwipstem Fruchtsorbet aussahen. Meine Verwirrung versuche ich, mir nicht anmerken zu lassen, denn eine Hauptspeise war bisher nicht serviert worden. Anscheinend wirkte ich trotzdem recht konsterniert, denn eine Braue kurz lüftend erklärte die Dame: „Zur Erfrischung.“ und verschwand. Ich war noch weiter aus dem Konzept gebracht, löffelte aber brav die winzigen, wodkalastigen Eisgebilde. Der Senior Chef der Partnerfirma, der uns unerwartet mittags in ein feineres Lokal geladen hatte, plauderte frohgemut weiter. Verstohlen zupfte ich ein weißes Haar von meinem schwarzen Merinorollkragenpullover, beschließend, beim nächsten Hund auf dunkles Fell zu achten. Mein Vater, den ich auf dieser kurzen Geschäftsreise begleitete, nickte rhythmisch, sein Beitrag zum gehaltenen Monolog. Am Nachbartisch wurde Rotwein kräftig geschwenkt zur Aromaprobe. Ich war darauf eingestellt gewesen, die Arbeiter im Werk zu sprechen, die die Maschinen bedienten, Wasserstrahltechnik, Laserschnitt, Tiefziehpressen, 3D-Drucker, und Details eines gemeinsamen Projektes vor Ort durchzugehen, sodaß mich das neunzigminütige Essen in einem Restaurant, vor dem S-Klassen und Aston Martins parkten, doch recht aus dem Konzept brachte, zumal ich in einer entsprechenden Etiquette nicht geschult bin. Ich schielte immer wieder zum Senior Chef, um das richtige Besteck zu erwischen und bloß keinen Fauxpas zu begehen. Er erzählte von Familie, Enkelkindern, Geschäften in den USA. Damit ich mich auch einmal konstruktiv einbringen konnte und nicht nur wie ein Dummchen neben ihm hockte, warf ich, als er von einem angeheirateten Familienzweig aus Sri Lanka berichtete, kurz ein, daß ich das Land bereits persönlich kennenlernen durfte. Er hielt abrupt inne. „Ach!“ rief er erstaunt aus. „Sie reisen?“ Dann starrte er auf seinen Teller, auf dem Pasta und Scampi drapiert lagen, und murmelte kaum hörbar – er, der Mitbegründer und Chef einer etablierten Hightechfirma mit vorzüglicher Reputation und siebenhundert Angestellten allein im deutschen Werk (es gibt noch eine amerikanische Dependenz): „Reisen – dafür fehlt mir der Mut.“ Mir blieb die Spucke weg! „Ja.“ sagte er weiter, leise, ganz leise, den Teller studierend: „Manchmal frage ich mich… Ich hätte schon gerne etwas geleistet… Zuwege gebracht. Mir fehlt die Kreativität…“ Ich starrte Papa an, vollkommen unfähig, darauf angemessen zu reagieren. Der beeilte sich, zu protestieren und die Großartigkeit dieses Firmen-Lebenswerkes zu betonen, ohne wirklich zur Seele des sinnenden Mittsiebzigjährigen ihm gegenüber vorzudringen. In dieser Minute hatte ich etwas gelernt, etwas bedeutendes gelernt, ein zukunftsweisender Aha-Moment war es, ein fehlendes Puzzlesteinchen, das sich laut klickend in ein Bild einfügte, und beinahe hätte ich laut losgelacht angesichts meiner neuen Erkenntnis: der Zweifel nagt nicht ausschließlich am Versagenden, und ob oder wie man versagt, hängt von der eigenen Sicht ab, nicht von Tatsachen und Gegebenheiten. Ich bin zum Beispiel nicht Frau L. (vgl. Eintrag 15), aber eines bin ich ganz gewiß – unabhängig von finanziellem und sozialem Erfolg oder Mißerfolg: kreativ. Und offensichtlich in andrer Leute Augen manchmal sogar mutig.