87 Existent
München, Mai 2019.
Mit Gänsehaut las ich Glassleys „Eine wildere Zeit“.
In der Abgeschiedenheit der Wildnis sind wir fern von dem Wirrwarr der Kultur, den Meinungen und Informationen, die unerläßlich auf uns einstürzen und die wir bewerten und auf die wir reagieren müssen. Hier müssen wir uns nicht unermüdlich anstrengen, alles in richtig oder falsch einzuteilen, denn die ungestüme Wildnis kennt keine Urteile, nur das Sein. (aus: William E. Glassley, Eine wildere Zeit. Aufzeichnungen eines Geologen vom Rande des Grönland-Eises, München 2018, S. 166)
Denken, immerzu Denken, über Fehler und über Erreichtes, über Wünsche und zerplatzte Träume, über Liebe, über die Gesellschaft, die Weltgemeinschaft, menschliches Handeln, Eingriffe in Systeme, die größer und älter sind, als unser Gehirn zu fassen vermag.
Ich genoß Glassleys vermittelte Art, zu erleben, zu empfinden, zu sehen, glaubte mich gespiegelt in seinen Schilderungen und Überlegungen, obwohl uns sonst nichts verbindet, Alter (reifer), Nationalität (us-amerikanisch), Beruf (Geologe). Seine Sprache ist von einer selten gewordenen Poesie: die Bilder, die sie erzeugt, sinken einem tief in die Seele hinein, allein die Szene mit den Seeigeln und Rippenquallen darf man als preisverdächtig bezeichnen; diese Szene, in der sich an reiner Handlung nichts ereignet, spaltet das lesende Publikum auf, teilt es ein in jene, die ehrfürchtig lächelnd über die Sätze wandern, sie zergehen lassend im Geiste wie edelste Trüffelpralinen, die vor Elegie erzittern und Glück erfüllt der Welt danken für deren Geschenk endloser Schönheit. Und teilt es in jene andere, die sich vor Langeweile durch die Passagen quälen, weil sie noch immer auf das große Abenteuer warten, die Spannung des Plots, so sie sich überhaupt je von einem Sachbuch über grönländische Geologie angesprochen gefühlt haben sollten. Ich kaufte es, weil mir die Idee gefiel, Zeit nicht nur als „wild“ zu betiteln, sondern das eigentlich statische Adjektiv dabei noch zu steigern; und Grönland freilich, Grönland… (vgl. Einträge 9 und 10 sowie 44)
Weshalb berichte ich ausgerechnet von Glassley, wo ich jährlich bis zu 70 Bücher lese, dazu diverse Magazine und Printartikel? Warum pflege ich regelmäßig Blog-Einträge in ein digitales Medium ein, wo mir das Virtuelle doch so entsetzlich fern und teils abstrus ist? Nehme ich mich zu wichtig mit dem, was ich an Erfahrungen sammele, sei es daheim oder auf Reisen? Bin ich selbstbezogen und eitel? Wenn ich es nur wüßte, eine Antwort fände darauf; wenn ich sie bloß wiedergeben könnte, diese Freude am schriftlichen Erzählen, dieses Gefühl von Sinnhaftigkeit und innerer Stimmigkeit, wenn ich ein passendes Foto zur Textillustration aufgetrieben und hinzugefügt habe. Es klingt paradox, aber es ist genauso, als würde man auf einem weitläufigen Hügel sitzen, unter sich zwei azurnerne Seen, um sich herum ein Teppich aus verfilztem Rot, Orange, Neongelb, Grün, Braun, die Tundravegetation im Herbstkleid, mit nichts in den Ohren als dem Wind, und wenn ich sage „nichts“, dann meine ich es: perfekte Lautlosigkeit, die eine eigene Qualität birgt, einem Schatz gleich, und egal was einen gerade bewegen mag im Leben, aufwühlen, anrühren, es legt sich wie ein weißes, frisch gewaschenes Bettlaken nieder, es legt sich und wird realtiv. Man sitzt in der Natur und ist. Ohne Einschränkung, ohne Einwand, Kritik. Hallo Leben, hallo Menschsein, hier bin ich, hier darf ich es sein (frei nach Goethe, nicht der Drogeriemarktkette).
Es waren Hunderte von Rippenquallen. [… Es wirkte], als purzelten dünne Regenbogenfäden durchs glasklare Wasser. So weit ich blicken konnte, schwammen sie um mein Boot. Ich tauchte ein in eine schimmernde Welt voll kinematischer Magie. (ebd., S. 132/133)
Danke Glassley, danke Kunstmann Verlag. Ich bin nicht allein, es gibt mehr von uns. Es gibt uns.