86, Teil II: Nach der Krise Gesang wie ein Duft
Kairo, April 2008.
Im Rahmen des Ethnologiestudiums hatten sie viel gelehrt über Begrifflichkeiten, Methoden, Lösungsansätze kulturgebundener Grenzen, immer wieder war der Terminus Kulturschock gefallen, abstrakt, nicht greifbar, gelernt, abgefragt, rein automatisch repetiert. Von Hochsensibilität hatte ich noch nicht gehört damals, als man sich hatte bewerben können für eine Exkursion in die ägyptische Hauptstadt zum Studium der verschiedenen Architekturtypen und -stile. Halleluja. Das leckere jedoch schwere, fettige Essen – Kichererbsen mit Reisnudeln und Tomatensoße – lag mir bei der Hitze von etwa 40 Grad Celsius bleiern im Magen. Die Ader an meiner Schläfe pochte nicht mehr: sie hämmerte, trommelte. Mir wurde schlecht von dem Farben- und Formenrausch, dem Gestank und Geschrei, der Armut, den Eindrücken, nichts als Eindrücke und Wahrnehmung, Programm, Exkursionsstoff, Input – Input, Input, Input! Ich verließ das Lokal, mein Teller voll Koscheri fast unberührt, stand auf dem Bürgersteig und brachte es fertig, als 23-jährige wohlgemerkt, in der Altstadt Kairos öffentlich zu weinen, sodaß die Passanten, überwiegend junge Männer, Jünglinge, Knaben, hämisch lachend auf mich zeigten, die unverschleierte, westliche Frau, die da vor aller Augen heulte (ein moralisch-gesellschaftliches Tabu), bis eine Kommilitonin sich meiner erbarmte und tröstete (wobei ich eher Beruhigung nötig hatte denn Trost, weil ich schlichtweg überfordert war von dem, was meine Sinne mir seit etwa einer Woche geliefert hatten). Das beschämende dieser Situation legte sich nicht unbedingt dadurch, daß mein reichlich ratloser Professor bekundete, etwas derartiges sei ihm noch nicht untergekommen während einer Exkursion. Boden, tu dich auf und verschluck mich bitte schleunigst! Ich mochte diesen Professor sehr, schätzte ihn, ehrte ihn, bis heute. Ich weiß nicht, wie oft ich ihm später dankte, daß ich an dieser Exkursion hatte teilnehmen dürfen, denn sie hatte mich gelehrt, daß die Realität eines Dokumentarfilms oder eines Reiseberichtes sich stark unterscheidet vom eigenen, tatsächlichen Erleben vor Ort. Sie hatte mich verstehen lassen, daß ich hochsensibel bin. Schließlich noch bin ich mir sicher, ganz sicher: ich wäre nie, niemals nach Südamerika aufgebrochen nach meinem Studium, hätte nie die Luft der Welt geatmet, wenn man mich nicht gewissermaßen aus dem Nest gestoßen hätte damals hinaus in die Fremde.
Nach diesem peinlichen Nervenzusammenbruch fühlte ich mich wesentlich besser, erleichtert, stabilisiert. Meine Kommilitonen kuckten mich in der Folge etwas scheel von der Seite her an, was mir egal war, hauptsache die Schläfenader hatte sich entspannt (Auf das Hilfsmittel Yoga sollte ich erst eine Dekade später stoßen.). Wir besichtigten ein weiteres Minarett, an dem der Zahn der Zeit im Laufe der Jahrhunderte stark genagt hatte, erklommen Stufe für Stufe den Turm bis zu einer winzigen Plattform, die allerdings zu betreten nicht ratsam war, da die Steine sich gelöst und klaffende Löcher hinterlassen hatten, die schwindelerregend in die Tiefe führten. Auf dem Weg zurück kam uns der Imam entgegen. Er trug ein puristisches, cremefarbenes Kittelgewand, Sandalen sowie eine kleine Kopfbedeckung; Selina, eine ausnehmend hübsche Frau voller Grazie, war mir einige Schritte voraus, die ich mich als letzte die steilen Windungen hinuntertastete. Das Düster des engen Wandelganges wurde ein wenig aufgelockert von einem bogenförmigen Fensterausschnitt, der kein Glas oder Holzstreben barg. Das milchige, staubtrunkene Licht fiel auf Selina und den Imam schräg unter mir. In ihrer beherzten, warmen Art hatte meine Mitstudentin in englischer Sprache den Gottesmann gebeten, eine Sure oder ähnliches zum besten zu geben; irgendwie hatte er begriffen, was sie wünschte. Er legte eine Hand an die Wange – der Gestus des Singens -, schloß die Lider und begann mit seinem spontanen Kurzkonzert. Der fremde arabische Klang, die melodiösen Laute waberten von Mauerstein zu Mauerstein, rieselten die schiefen Stufen herab, tänzelten sie zu mir herauf. Selina und ich, wir waren der Welt entrückt, es gab nur den fahlen, alten und doch zeitlosen Dämmer des Minarettinneren, zwei Lauschende und einen unpretentiösen, gekonnten Gesang, der uns noch lange, lange umschwebte, an uns haftete wie ein Duft.