70, Teil III: Von Zicklein und Mitternachtsformeln

70, Teil III: Von Zicklein und Mitternachtsformeln

Oman, Februar 2011.

Endlich eine Ortschaft. Niemand in dem abgeschiedenen Bergdorf hatte an diesem Tag mit Touristen gerechnet, verlassen lag es da, belebt von den typischen Ziegen mit dem hübschen, langen Fell, hellbraune, schwarz-weiß gescheckte, dunkelbraune. Lediglich zwei alte Männer in traditioneller Kluft ruhten im Schatten, uns Fremde mit einem freundlichen Nicken grüßend. Eine Vielzahl an Jungtieren stakste teils noch unsicher auf den langen Steckenbeinen durch die Gegend, manche frisch geboren und nach wackligen, anstrengenden Versuchen wieder zurück auf den Grund klappend. Das Kindchenschema tat seine volle Wirkung und entlockte mir Laute des Entzückens.

Die anderen der Gruppe lauschten etwas abseits den Ausführungen des Guides über ländliche Imkerei, doch waren die Bienenstöcke durch einen Zaun versperrt, sodaß man sie nur von weitem durch enge Gitterstäbe oder auf Zehenspitzen stehend über eine hohe Lehmmauer hinweg betrachten konnte.

Younis rief mich zu sich. Auf seinen Armen trug er ein kleines Zicklein. “Two weeks old.” sagte er mit Akzent und breitem Grinsen. Ich wußte, er wollte bloß punkten bei mir, aber das Wesen war einfach zu herzallerliebst und ich strich verzaubert dem Kleinen über die weiße Blesse zwischen den winzigen Hörnern.

Die Erläuterungen unseres Guides hatten mich nicht erreicht, was ich erst bemerkte, als er geendet und seine Reiseschützlinge auf Eigenbesichtigung des Dorfes geschickt hatte.

“Do you want to see the bees?” fragte Younis, als ihm mein leiser Unmut auffiel.

“Sure.” sagte ich und zuckte mit den Achseln.

Younis steuerte auf einen der alten Männer zu, sprach ihn an, die Gesten eindeutig fordernd, da verschwanden beide. Als Younis zurückkehrte, hielt er einen Schlüssel in der Hand. Er sperrte das  rostige, quietschende Tor zu den Bienenstöcken auf, um mir eine intensive, exklusive Privatführung zu geben, mir und zwei weiteren, männlichen Gruppenmitgliedern, die sich noch in der Nähe aufgehalten hatten, offensichtlich zu Younis´ ungeäußertem Mißfallen. Henning feixte: “Phantastisch! An dich werde ich mich künftig halten! Da gibt es immer Sonderbehandlung!” Er war Mathematikprofessor und leidenschaftlich fasziniert von den Sternen.

 

Erstarrtem Wachs gleich lagerten die Wände vor mir, an wenigen Stellen mit saftigem Moos und kleinen Farnen bewachsen. Wenn das Besteckgeklapper während des Picknicks einmal verstummte, war das beständige leise Klatschen der Wassertropfen zu vernehmen, die versteckten Rinnen entlang hinabglitten. Die Oberfläche des Teiches war gekräuselt, ein unruhig tanzendes Muster bildend. Er war Mittelpunkt einer romantischen Szenerie: um ihn herum gruppierten sich eine grottenähnliche Formation, gigantische Felsquader sowie Uferpflanzen, in denen Frösche quakten, ein Klang wie das geräuschvolle Aufziehen eines Räderwerkes. Kaulquappen bevölkerten die bunten Steine seines Grundes.

Neben Palmen, Bananenstauden, Viehfutter und Papaya gediehen auch etliche Mangobäume in der Oase, ein traumhaftes Paradies aus herrlichsten Grüntönen inmitten von schroffem, rot-grauen Fels. Kinder und Jugendliche, sie hatten Ferien, arbeiteten an einem neuen Weg. Gesteinsbrocken wurden eine Menschenkette entlang von Hand zu Hand weitergereicht, Erdreich aufgegraben, auf Esel befördert und zu den Feldern gebracht. Bei allem Fleiß tratschte und lachte man, die Gemeinschaft hatte offenbar Vergnügen an ihrem Tun.

Ich trat an einen Mangobaum heran, rupfte ein Laubblatt, zerrieb es zwischen den Fingern und sog den Duft ein: die Blätter des Mangobaumes riechen wie seine Früchte… Dies hatte mir einst ein Ethnobotaniker gezeigt, den ich in der Abgeschiedenheit Perus kennengelernt hatte. Für wenige Minuten lag Peru im Oman.

 

Henning bog ab, entfernte sich ein Stück von der Trekkingschlange. Wir waren gerade an einem Schutthaufen vorbeigekommen, zerschlagene Fliesen, leere Konservenbüchsen, Draht, da raschelte etwas sacht im Luftzug. Ich sah Henning sich bücken, das weiße Flatterding aufheben, ein Stoß Papier samt Umschlag. Ein beschriebenes Schulheft, das einzige seiner Art dort auf dem Abfallgeröll. “Da hatte wohl jemand Angst wegen seiner schlechten Note!” lachte einer der Wanderer.

Henning hörte kaum hin, blätterte mit aller Vorsicht in seinem Fund. Ich wurde aufmerksam. In Hennings Mimik las ich nach einem ersten Erstaunen Rührung. Er hob den Blick, schaute mir kurz in die Augen.

“Ein Matheheft.” sagte er mit belegter Stimme und räusperte sich kurz. “Etwa achte Klasse.” Er schwieg einen Moment. “Ah, hier erkenne ich die Mitternachtsformel: sie ist aber von rechts nach links gebaut!”

Henning, der Professor für Mathematik, würde in wenigen Wochen pensioniert werden.

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