58 Von Lebenshunger, Regelbruch und Chiffren
München, Januar 2019.
Wer tat den Ausspruch, wir seien die Summe unserer Begegnungen? Ist es bloß esoterisches Geschwafel, daß alles mit allem verbunden sei in diesem Universum? Gehören Coelhos Soulmates ins Reich des Kitsch? Weshalb sucht man sich bestimmte Vorbilder, persönliche Helden der Kunst, Literatur, des sozialen oder ökologischen Engagements?
In diesem noch sehr jungen Jahr, das mich in drei Tagen schon nach Äthiopien tragen wird, kehre ich zurück von Mini-Trips durch Allgäuer Berge und Schwarzwälder Land, voll von im Blut zirkulierenden Erinnerungen und Fragen. Verschiedenste Wünsche, Träume, Sehnsüchte, Interessen bevölkern mich, einander wiedersprechend, in mir auseinanderstrebend – welchen soll man dem Vorzug geben, worauf sich fokussieren? Oder doch keine Meisterschaft erlangen in einer einzelnen Sache, sondern stattdessen nach jedem Gut greifen? Ich bin gierig! So unendlich gierig nach dieser Welt mit ihren unsagbar vielen Wundern, Geschichten, Anekdoten, Bildern, Wesen, Formen. Ich breite die Arme aus, ganz weit, lege den Kopf in den Nacken, mich dem öffnend, was immer da kommen möge. Die Interior Designerin Iris Apfel, geboren 1921, meint: „Personal Style [in every sense] is curiosity about oneself.“
Ich breche sämtliche Regeln, nach denen man sich zu richten hat, wenn man einen erfolgreichen Blog betreiben möchte: Man hat sich kurz und prägnant auszudrücken, ein einziges Thema abzuhandeln, mit den Lesern konsequent zu interagieren, damit sich diese als eingebunden und beachtet empfinden. Regelmäßig eingepflegte Selfies stärken das familiär-freundschaftliche Zusammengehörigkeitsgefühl und verdecken den tatsächlich virtuell – einseitig anonymen Kontakt. Man hat sich als „professionell“ darzustellen, als Experte eines bestimmten Gebietes, stark, sicher, wegweisend. Ich habe mich bewußt dafür entschieden, auf Instrumente der Kontrolle, wie sie etwa Google Analytics bieten, sowie auf einen Besucherzähler zu verzichten. Ich kann somit nicht nachvollziehen, wieviele Personen aus welchem Teil Deutschlands (oder anderen Flecken der Erde) wann welche Einträge lesen. Du bist frei hier, lieber Leser. Frei und eingeladen, willkommen, respektiert, geschätzt.
Eigentlich mag ich keine Fotografien, die mich selbst zeigen, konträr zum Zeitgeist, aber eine Aufnahme der jüngeren Vergangenheit hat es mir angetan. Sie stammt von Roland Schweizer, dem Guide der Islandreise im letzten August (vgl. Einträge 33 und 34). Obwohl es sich um einen relativ kleinen Landschaftsausschnitt handelt, der eine schlichte Komposition aus linearem Vorder- und schräg schraffiertem Hintergrund zeigt, erkennt man eine ungeheure Weite und Leere der Szenerie; das anthrazitfarbene, fast schwarze Gestein wird lediglich von einigen neonen Moosen durchbrochen. Rechts am äußeren Rand sieht man mich in seitlicher, vertiefter Pose auf einem einzelnen, losen Brocken sitzen, die Beine übereinandergeschlagen, versunken in mein Notizbuch. Eine schreibende Frau, die mit der Lyrik dieser rau-bizarren Natur verschmilzt, eins wird mit ihr, geistig, physisch. Nichts daran ist gestellt, denn ich hatte überhaupt nicht bemerkt, daß ich vor die Linse geraten war, was nicht nur am Ausmaß des verwendeten Objektivs lag, sondern daran, daß ich vollständig aufgegangen war in meinem Schreiben dort in isländischer Kälte, Stille, Kargheit, Ewigkeit, Schönheit, rauschhaft, beseelt. Dieses nicht-klassische „Portrait“, Chiffre meiner Beziehung zu Island, ist die Essenz dessen, wonach es mich drängt und was mich ausmacht, fern rein phänotypischer Wiedergabe, danke sehr. Ich wünsche jedem Menschen, daß er ein einziges Mal in seinem Leben ein wirklich echtes, authentisches Portrait seiner selbst in den Händen halten darf, eine Darstellung ohne Maskerade, ohne Prestige, Status, Retusche, Fake, fern von Geltungsbedürfnis, aufgesetztem Heldentum und Narzismus. Eine bildgewordene, in Pixel übersetzte Wahrheit: die seine.