56, Teil II: Dem Nebel davongelaufen

56, Teil II: Dem Nebel davongelaufen

Schottland, Mai 2016.

 

„Ah, du weißt es noch nicht!“

„Was?“ fragte ich, die ich gerade die Küche betreten hatte zum gemeinschaftlichen, abendlichen Abwasch (der sich stets so gestaltete, daß die Männer ratschten, während die Frauen spülten und trockneten).

„Wir frühstücken morgen nicht.“

„Wie bitte?“

Der Mann, ein nervender Rechthaber mit Bierbauch, setzte eine belehrende Miene auf. „In Anbetracht der großen Anstrengungen des morgigen Tages – wir werden fast tausend Höhenmeter zu bewältigen haben – und des zeitigen Aufbruchs um sieben Uhr verzichten wir auf ein Frühstück, das uns nur hinderlich wäre beim Aufstieg, und schmausen erst später auf dem Gipfel.“

Ich starrte den Herrn für Momente nur an. Ich dachte an die drei bis vier Teller voll fettig-schwerer, klebrig-süßer Sachen, die er täglich in sich hineinzustopfen pflegte, Würste, Käse, Schokocreme, es vergleichend mit meinem Schälchen Müsli und Obst. Ich dachte an die langen, steilen Aufstiege in viertausend Metern Höhe zwischen den Schnee bedeckten Hünen des Annapurna-Areals, an die Gluthitze trockenster Hänge im Oman und daran, daß meine fast siebzigjährige, 1,50 Meter kleine Mutter tausend Höhenmeter als gemütliche Tagestour in den Alpen absolviert. Ich dachte an all die Wanderungen, die man zwei, drei, vier Uhr morgens beginnt, um zum Sonnenaufgang rechtzeitig sein Ziel erreicht zu haben. Insbesondere dachte ich aber an die bestialisch schlechte Laune, die mir ein hungriger Magen beschert.

„Von mir aus könnt ihr umkippen alle morgen auf dem Weg den Munro rauf, ich jedenfalls werde mir ein Müsli machen.“ sagte ich schließlich gelassen. Wütend biß der Mann die Kiefer zusammen. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ein Mann über mich bestimmt – er offensichtlich nicht die Widerworte einer Frau.

Am nächsten Morgen fand sich der mehrheitliche Teil der Gruppe zum Frühstück ein, lediglich Mr. Bierbauch und Gattin fehlten.

 

Ich warf einen Blick zurück. Verzweifelt. Es gibt dieses Gesetz, wenn man gemeinschaftlich in den Bergen wandert, daß man sich am schwächsten Glied zu orientieren und sein eigenes Tempo daran anzupassen habe. Ich schnaufte nicht nur nicht, ich langweilte mich. Erneut verharrte ich an einer Kurve. In ziemlicher Entfernung unter mir quälten sich ein dutzend Leute mit hochrotem Schädel, verschwitzt und pustend, perfekt ausgestattet mit Hightechbekleidung und Leki-Stöcken, das erste Fünftel des Munros (= Erhebung von mindestens 914,4 Metern in Schottland) hinauf. Unser Guide, ein netter, etwas hilfloser Typ (in dieser Gruppe gab es viel Gezank und Stänkerei, womit er nicht recht umzugehen vermochte), erhaschte meine Augen. „Laura!“ rief er hoch zu mir, „Laura, lauf zu, wir treffen uns am Gipfel!“ Verdutzt hakte ich nach, ob ich mich vielleicht verhört hätte, doch nein; und so nutzte ich meine Chance, rannte los, den schmalen Pfad hinauf, bis mir das Herz durch die Brust hämmerte, der Schweiß meinen Rücken hinabrann, griff aus mit Beinen und Armen, als habe man ein Tier von der Kette gelassen. Denn so miserabel ich im Abstieg bin, unsicher, langsam, linkisch, tolpatschig, so flink, leicht und frei trägt es mich nach oben. Endlich fühlte ich mich im Fluß, verschmolz ich mit dem Berg, löste ich mich auf, um mit dem Wind die Flanken zu umflattern. Kälte biß mich, doch spürte ich sie kaum, stattdessen einen rasenden Puls: vor Anstrengung und Freude. Ein kleiner Bach gluckste anfangs noch neben mir her, gebettet auf leuchtendes Moos. Bäume oder Gesträuch wuchsen nicht, der Grund wurde immer steiniger, loser. Ringsumher im Format einer Spielzeuglandschaft fanden sich Täler ausgebreitet, ineinandergreifende gelblich-grüne Ebenen voll blinkender Flächen, schroffe Wände, zarte Gräser, Täler, die sich mit meinem Munro und dem wolkenverhangenen Himmel verzahnten zu einer Komposition endloser Schönheit und Ruhe. Die Wildnis lachte mich an, das Abweisende in ihr war mir eine Einladung. Ich bin glücklich, vollkommen glücklich, wenn ich mich bewegen kann in frischer Luft und Stille, auch wenn Glücklichsein manchmal eine gewisse Melancholie und Wehmut miteinschließt. Ein Laut drang an mein Ohr, nicht verursacht vom Wind, sondern ausgestoßen von einem Wesen. Im Grau des Felsbodens sich duckend erspähte ich ein Schneehuhn, eine Federgrisaille mit einem einzelnen roten Tupfen am Kopf, als trüge der Vogel Schminke. Wir beobachteten uns ein wenig gegenseitig, bis meine klickende Kamera ihn bewog, aufzufliegen und davon. Ein paar Minuten später stand ich am Gipfel, ein kleines, nacktes Plateau, von wo aus man eine 360 Grad-Perspektive auf schottische Einsamkeit genießen konnte, ganz am Horizont sogar das Meer aufgleißend im kämpfenden Sonnenschein. Ich verspürte Sehnsucht, einfach weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen, die Bergrücken entlangzusteigen, der Landschaft zu folgen, als sei sie ohne Grenzen, als sei sie auf ewig unbesiedelt. Ich zähmte meine Gier nach Freiheit, mich begnügend mit dem grandiosen Panaroma, das sich mir da soeben verschenkte. Rasch begann ich zu frieren, wie ich verschwitzt im Gipfelwind auf die Gruppe wartete. Plötzlich war das Licht verschwunden und mit ihm sämtliche Szenerie. Kompakter, schwerer Nebel reduzierte das Plateau auf einen zehn mal zehn Meter kleinen Punkt im Nirgendwo. Ich klapperte mit den Zähnen, als die anderen schließlich eintrafen.

„Mein Gott, du bist ja ganz blau!“ begrüßte mich unser Guide. „Du wartest wohl schon lange, wie? Kehr gerne schon einmal um, wir sehen uns am Bus.“

 

Nach einer selig heißen Dusche in der alten Emaillewanne auf Löwentatzen raunte mir abends im feudalen Speisezimmer der Guide leise zu: „Sag mal, hattest du eigentlich Sicht?“

„Wie meinst du das?“ gab ich erstaunt zurück.

„Na, als wir endlich oben waren, gab es bloß eisigen, bleigrauen Nebel.“

„Ach so.“ sagte ich. „Ja, ja. Hatte ich auch. Scheußlicher Nebel, fürchterlich.“

Als der Guide sich abwendete, mußte ich grinsen.

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