55, Teil I: Wohnen im Jagdschloß
Schottland, Mai 2016.
Der Tisch war eine eicherne Tafel, die fast den gesamten Raum einnahm, gedeckt mit weißem Leintuch, Porzellan und Silberbesteck zu Kristallgläsern. Das „Standorthotel“ der Wanderwoche hatte sich als ein Jagdgut des 17. Jahrhunderts entpuppt, die Steinmauern uneben, urig dick, gekalkt, die Fassade türmchenversehen, das Dach aus Schieferschindeln tief gezogen und von mehreren Kaminen durchbrochen.
Besteck klimperte, es roch nach Eiern und Speck. Man reichte sich die Orangenmarmelade, den Lemon Curt, fragte nach Salz und Pfeffer, schenkte dampfenden Kaffee nach. Das typische britische Weißbrot, lappig, weich, neutral wie Papier im Geschmack, ließ sich ungeröstet kaum essen, sodaß man Schlange stand vor dem einzigen Toaster, den man auf einer schellackpolierten, antiken Kommode voller Intarsien abgestellt hatte, ein Spitzendeckchen als Unterlage, immerhin. Der Toaster befand sich im Dauerbetrieb, nach einer langen Weile ploppte das fertige Brot in hohem Hüpfer aus den Schlitzen; ein Mitreisender fing es auf in der Luft, in der Hand sein Frühstücksmesser, das nur knapp die Leinwand eines Gemäldes verfehlte, das über der Kommode aufgehängt war. Mir rutschte das Herz in die Hose. Ich liebe Kunst, liebe Interior Design, respektiere das Alter vieler Gegenstände, achte das handwerkliche Geschick, das Können darin, schätze die Materialien. Jedenfalls konnte ich als Kunsthistorikerin durchaus erkennen, daß es sich bei dem Ölbild nicht um einen Flohmarktschinken handelte, sondern um sehr gut gemachte Feinmalerei. Im Hochformat, edel golden gerahmt, war eine schottische Gebirgslandschaft dargestellt, rau und karg, sowie eine kleine Herde der einheimischen Hochlandrinder mit ihren hübsch rötlichbraunen, cognacfarbenen Zottelfellen. Die Detailfreude beeindruckte mich, die ungezwungene Treffsicherheit des moorigen Grundes, der launischen Lichteinfälle, der zerrissenen Wolkenfetzen in ausdrucksstarkem Duktus, ich spürte den Wind an mir rütteln, roch die feuchte Erde und schmeckte die Kälte auf meinen Lippen. Ich konnte nicht anders, ich bat meine Mitreisenden um ein wenig mehr Vorsicht im Umgang der uns umgebenden Objekte, wofür ich Spott bzw. Unverständnis erntete, ich solle mich „nicht so haben“.
Insgesamt behagte mir unsere Unterkunft nur bedingt, denn sie war über und über dekoriert mit Trophäen aller Art, im Eßzimmer blickten mir zehn Hirschköpfe entgegen, hervorragend präpariert voller Ausdruck und Lebendigkeit, sodaß ich während jeder Mahlzeit damit rechnete, in einen Jägermeister-Werbespot zu geraten und die Tiere plötzlich mit mir sprechen zu hören… Im Salon prangten Adler, Löwen, Gazellen, in der Toilette konnte man auf einer Motivtapete in nostalgischer Manier diverse Fischarten studieren und in englischer Sprache nachlesen, in welchen Gewässern, zu welcher Tageszeit und mit welchem Köder sie zu fangen seien. Das Gästebuch am Gebäudeeingang lag aufgeschlagen; Brian, acht Jahre, aus London, hatte in kindlich-weichen Schlaufen notiert: „Cool! Shot my first pheasant today!“
Im verwaisten Spielzimmer, das ich auf dem Weg in meinen Raum zu queren hatte, stach mir ein Christie´s-Katalog auf dem Fensterbrett ins Auge. Es war der einzige seiner Art, was meine Neugierde erweckte. Ich blätterte ihn geschwind durch, mich fragend, was wohl das Interesse des Gutsbesitzers geweckt haben mochte darin. Im letzten Drittel fand ich es unerwartet. Abgedruckt in den Händen hielt ich die Hochlandrinderszene des Frühstückssaals; daneben der Schätzpreis der Auktion.
55 .000 Pfund (etwa 61.000 Euro)…