54 Betrachtungen
München, kurz vor Heiligabend 2018.
Jemand wird weinen, ganz gewiß; es werden ihrer viele sein. Wieder andere werden keine Kraft mehr haben dazu, innerlich verhärtet, ausgeblutet, resigniert sich fügen. So wird das sein, weil es jeden Tag so ist: die Mutter aus dem Dorf, die ihre Tochter bei einem Verkehrsunfall auf Glatteis verloren hat; der indonesische Fischer, dessen Frau von den Fluten des Seebebens erschlagen worden ist; der indische Müllsammlerjunge, der stinkend und verwahrlost Papierfetzen in ein Stück Chapati zu verwandeln versucht; das beschnittene vierjährige, afrikanische Mädchen; die Angehörigen, die mitansehen mußten, wie Schüsse auf einem sorglosen Christkindelsmarktbummel auslöschen, was sie geliebt haben, gekannt und geschätzt; ein Volk, das man all seiner Architekturjuwelen und kulturellen Identität beraubt hat; und könnten Tiere weinen und Pflanzen, so wüchse das Tränenmeer ins Unermeßliche; Kühe, die aufgrund zu schnell laufender Fließbänder bei lebendigem Leib enthäutet werden; Welpen, als Fußball verwendet, bis sie Brei geworden sind; Buchen, 200 Jahre alt, die Bauprojekten zu weichen haben, häßlichen, unguten Betonkörpern ohne Seele. Wahllose Beispiele, ein Nichts in Anbetracht der Realität. Dann lausche ich Ludovico Einaudi, höre in der Traurigkeit, in der Melancholie der Klavierklänge die Zuversicht, den Morgenschimmer, die zarte, poetisch-romantische Lebensfreude.
Aus den Nachrichten erfährt man, deutsche Ärzte und Krankenschwestern befinden sich auf dem Weg nach Indonesien zur Versorgung der verletzten Tsunamiopfer, zur Lichtung des Chaos. Ich wundere mich weniger darüber, daß es Menschen gibt, die zur wichtigsten aller Festlichkeiten unentgeldlich und unter persönlichem Risiko ihre Liebsten vertrösten und missen, um in einen Flieger zu steigen in ein Land, das zwölf Stunden entfernt liegt. Nein. Ich wundere mich über die Kraft solcher Menschen, die vom Elend nicht überrollt werden, sondern dem Glauben folgen können, etwas zum Guten, zum Besseren zu bewirken. Menschen, die sich nicht unterkriegen lassen, die vorangehen, nicht zaudern, nicht abwägen, die nicht fragen, ob es etwas ausrichtet, ob es nicht wahrscheinlich bloß ein Tropfen ist auf dem heißen Stein.
Auch auf anderer Ebene findet sich dieses Phänomen, nie werde ich die bildhübsche Ultramarathonläuferin der Dokumentation Embrace vergessen, die im australischen Busch in ein Feuer geraten war, verbrannt fast bis zur Unkenntlichkeit, Gesicht bzw. Kopf, Hände, Oberkörper kaum mehr „menschlich“ zu nennen, so weit entfernt waren die vernarbten Reste von dem gewohnten Bild; es ging nicht um „schön“ oder „häßlich“, sondern um die fürchterlichen Qualen, das grenzenlose Entsetzen, die diese Person ertragen hatte müssen. Ihr Partner, ein ungemein aparter, attraktiver Mann ist noch immer an ihrer Seite. „Natürlich ist er das!“ rief die im Film Porträtierte empört aus, als die Journalistin sie darauf ansprach vor der Kamera. „Warum sollte er mich verlassen? Ich bin eine tolle Frau!“ – Chapeau, ein ganz tiefer Kniefall. Ein Moment des ehrfürchtigen Schauers. Wenn wir alle mehr denken, handeln, reden würden wie sie oder die Tsunamihelfer und weniger im Vorfeld kapitulieren, dann sähe es ein ganzes Stück anders aus bei uns auf der Welt. Reicht da eine Spende bei den Seashepherds? Eine Geschenkeaktion? Der eine oder andere philosophisch-moralische Gedanke bei Kerzenschein?
Und ich beschließe: jetzt und hier reicht es aus, man selbst zu sein. Wer ständig zweifelt, vergeudet Energie, anstatt auf Ressourcen zurückzugreifen, die Wandel herbeiführen könnten. Hier und jetzt also, bestärkt von Einaudis aus der Stereoanlage perlendem „Passaggio“, erlaube ich mir, mich zu erfreuen: an den frisch gebackenen Gewürzkeksen, dem geschmückten Adventskranz, den von Freunden bereits überreichten, herzlich verpackten Präsenten für den morgigen Abend.
Das Leben ist ein Trotzdem, ein: trotzdem Ja!