52, Teil II: ABER ABER
München, Dezember 2018.
Ob ich eigentlich wisse, daß die Inkubationszeit der Tollwut bei bis zu achtzehn Jahren liege. (Ich muß gestehen, daß ich als wandelndes Lexikon gelte, was nicht unbedingt als freundliches Kompliment gemeint ist, sondern oft mit verdrehten Augen hervorgebracht wird.) Tatsächlich wußte ich es in diesem Fall nicht. Und daß es mir passieren könne, daß ich Cocktail trinkend an einem Pool liege und von einem Eichhörnchen gebissen werde. Ich hob zum Protest an. – Jawohl, dies sei vorgekommen und sogar von der Kamera der Anlage gefilmt worden, Demonstrationsmaterial auf Ärztekongressen. Ich klärte das Mißverständnis nicht auf. Mein Einwand hatte sich freilich gar nicht auf den Eichhörnchenbiß bezogen – die bloße Vorstellung, von meiner Person, wie sie Cocktail schlürfend an einem azurnern schimmernden Schwimmbeckenrand flackt, war mir gänzlich abstrus. Dafür dachte ich an andere Szenen: Johanna und ich, wie wir in einer kenianischen Lodge die Affenhorden stänkern, die vor unserem verschlossenen Zimmerfenster hocken und uns um die Früchte bedrängen, die wir bei uns haben, Bananen, Papaya, Mangos. Johanna hält ein Stück mundgerecht geschnittener Melone vor die Scheibe, es mit einem überlauten HHHmmmmm wonnig verspeisend, daß ihr der Saft über das Kinn läuft. Die gut zwei Dutzend Makaken schreien auf, schlagen mit den flachen Händen gegen das Glas, das Maul weit aufreißend, beeindruckend-scharf gebogene Zähne bleckend, aufgebracht aufhüpfend. Ich dachte an die Giraffe, der ich die samtene Wange gestreichelt hatte, an die warm-weiche, lederne Haut des zahmen Rhinozeros, an meinen Flirt mit der Ginsterkatze, den Blick in Hyänenaugen zwanzig Zentimeter vom Gesicht entfernt. Dachte an die Fledermaushöhlen im Oman, auf Soqotra, in Guatemala, nur um ein paar wenige zu nennen, dachte an all die Hunde, die es mich zu knuddeln drängte, dürre, schmutzige Gerippe, flohverseucht; an das Zicklein in der Südosttürkei, das ich im Schoß hielt, bis es eindöste, das letzte Zicklein einer armen Bergbauernfamilie, das die Schakale nicht gerissen hatten. Ich dachte an die vielen Simienfüchse, die über die Ebenen der Bale-Berge trotteten, an die Hunderten von Mäusen und Nagern, denen ich bisher wandernd begegnet war, an das neugierige Mungo in Nepal. An die Warzenschweine, das Gürteltier (können Gürteltiere Tollwut überrtagen??), den Fenekbau in Jordanien, in den ich versehentlich eingebrochen war bis zum Knie. Ich dachte binnen einiger weniger Sekunden an ziemlich viele Begegnungen (auch automatisch an die Sandviper und damit daran, daß es schlimmeres geben kann als Tollwut), kurz: dachte mir, daß zwei Drittel meines Lebens aus Fauna und Flora bestünden, nur das andere, letzte Drittel aus Kunst bzw. Kultur. Mein Zögern wurde mißgedeutet: die Kasse zahle die Tollwutimpfung. „Ja,“ sagte ich lakonisch, „ich bin schon eher tieraffin.“ „Sehen Sie,“ sagte mein Gegenüber (und fairerweise ergänzend zu anderen Blog-Einträgen soll angemerkt werden, daß es auch freundlich Bemühte unter den Ärzten gibt), „umso wichtiger, daß Sie sich impfen lassen.“
Theoretisch – wirklich rein theoretisch, liebe Verkehrspolizisten und -polizistinnen unter den verehrten Lesern – könnte man ja mit um 60% überhöhter Geschwindigkeit die Bundesstraße entlangfahren. Oder aus Geiz in einem zerlöcherten Schlafsack bei deutlichen Minusgraden nächtigen, sodaß die Zehen monatelang taub bleiben. Oder während einer Himalayatour samt Schneeinbruch die Jacke vergessen. In starke Meeresströmungen geraten. Allein ohne Handy und ohne überhaupt irgendjemandem Bescheid gegeben zu haben, 30 Kilometer durch den ecuadorianischen Bergnebelwald latschen, von Blitzen und Starkregen überrascht.
Ja, ich werde mich impfen lassen.
Nur manchmal ist das Leben so ungemein voll ohne dieses ewige ABER ABER ABER. Vernunft versus Freiheit. Leichtsinn versus Handlung, die zur Erinnerung wird. Wenn einem nichts mehr bleibt, bleibt die Erinnerung – vorausgesetzt, man erhält sich selbst lang genug, um sich daran erfreuen zu können…
Wie heißt es bei John Denver so schön:
Come dance with the west wind and touch on the mountain tops
Sail over the canyons and up to the stars
And reach for the heavens and hope for the future
And all that we can be and not what we are