5 Seekrank
Azoren, Juni 2012.
Auf dem Schlauchboot, stundenlang umhergeworfen vom rauen, torkelnden Meer, wurde ich seekrank. Daß Übelkeit ein solches Leid erzeugen kann! Man muß es selbst erfahren haben, sonst bleibt es nicht nachvollziehbar, sondern abstrakt. Mir war elend, zum Wahnsinnigwerden schlecht, doch übergab ich mich nicht. Mir wurde alles gleichgültig, ich verdrückte ein paar stumme Tränen, die niemand der hohen, spritzenden Wellenkämme wegen sah, trauerte für mich um meine verstorbene Schwester (daß Trauer immer in solch ungünstigen Momenten auftaucht!), kriegte kaum mehr Luft, atmete flach, überließ mich den harten Schlägen des kreuzenden Bootes, wehrte mich nicht länger gegen diese unbequeme, steife, riesige Schwimmweste, die zu tragen wir genötigt waren. Wir gabelten eine unechte Karettschildkröte auf, die in den Händen unseres Guides strampelte, um frei zu kommen. Es war mir egal. Wir hoben einen Drückerfisch aus den Fluten, gemein beißende Viecher, die Taucher trotz der geringen Größe höllisch fürchten. Auch egal. Beide Tiere entließen wir zurück in den launischen Atlantik, was mich nicht einen Funken interessierte. Es gab nur noch das graue Meer und meine Übelkeit. Ich wurde ohnmächtig, das erste und vorerst letzte Mal in meinem Leben verlor ich das Bewußtsein. Für Sekunden nur. Ich erwachte davon, daß der besorgte Skipper hinter mir salziges Wasser über mein Gesicht schöpfte; seine Hände rochen nach Nikotin, und mein erster Gedanke galt der Sorge um mein Make-Up… Wie dämlich! Töricht! Daß mir die Schminke in einem Augenblick der körperlichen Schwäche noch derart wichtig erschien… Aber es half etwas, die nasse Kälte auf meiner Haut. Ich sah, wie unser Guide, übrigens Apnoe- und Höhlentaucher, Profifotograf, Dokumentarfilmer und Preisträger renommierter Awards im Bereich Naturfotografie, von der Gummirehling in den Ozean hechtete. Wie im Actionstreifen, hollywoodreif. Zurück im Dingi präsentierte er uns ein eher farbloses, zerfetztes, glibbrig-festes Etwas von vielleicht vierzig Zentimetern Länge, das er als ein von einem Pottwal in den Tiefen gerissenes Stück Fleisch eines Riesenkalmaren bestimmte. Ja, DAS interessierte mich dann wieder. Ich verstand in diesem Moment, daß mein Erleben sich nicht auf Bücher, Ausstellungen, Fernsehsendungen beschränken mußte, genauso wenig wie ein Abenteuer unbedingt unter Risiko und Sterblichkeitsherausforderungen zu erfolgen hatte. Daß es einen Mittelweg gab, ein Dazwischen. Daß man ängstlich sein und zugleich Mut beweisen könne. Schwächen erliegen und trotzdem gewinnen.