4 Irgendwo zwischen Schwiegermuttertraum und Rockerrebell
München, Januar 2018.
Ein Foto zeigt eine brünette junge Frau, eher noch ein Mädchen, mit streng zurückgebundenem Haar und Brille während der ersten längeren, ohne Eltern unternommenen Reise, ein Kompaktkamera-Selfie, auf dem sie mit weit aufgerissenen Augen den Betrachter anstiert wie ein angeschossenes Reh, die Ohren mit dicken Schützern bedeckt, hinter sich der winzige Fensterausschnitt jener Sieben-Personen-Cessna, die sich soeben über der Wüste hochschraubte, um den Hand voll Touristen in steilen Kurven, Windungen, Manövern die Nazca-Linien aus der Vogelperspektive zu präsentieren.
Ich habe gigantische Flugangst.
Überhaupt bin ich die Brave, Vernünftige. Meinen achtzehnten Geburtstag „feierte“ ich daheim im Kaffeekranz mit den Eltern, meiner Kindergartenfreundin und deren Mutter, etwa zwei Stunden lang, ich trug einen weiß-grün gestreiften Strickpullover. Während meiner gesamten Schulzeit war ich zwei Mal in der Diskothek gewesen, wo ich mich ratlos an einen unnatürlich farbigen Alkopop der Firma Bacardi geklammerte hatte. Besuch von Freundinnen aus der Stadt bekam ich Landpomeranze vielleicht vier Mal im Jahr, ansonsten traf man sich in der Schulpause, denn ich hatte regelmäßig das Glück, mich mit demjenigen Mädchen anzufreunden, das das neue Schuljahr nicht bestehen würde, sodaß einem eben nur die halbstündige Pause zum Plausch blieb (auf diese Weise „verlor“ ich fünf Freundinnen, nacheinander, bis mir die Lust auf das Knüpfen neuer Bande verging und ich mir die Zeit allein vertrieb). Nahtlos im Anschluß an das Abitur studierte ich in acht Semestern Kunstgeschichte, Ethnologie, Politik auf Magister Artium, in den Semesterferien Ausstellungen und Museen in München, Deutschland, den Hauptstädten Europas besuchend. Ich war phänomenal bieder, fügsam. Ein Schwiegermuttertraum, belesen, kultiviert, ruhig.
Na, gut, revoltiert habe ich zwischenzeitlich einmal, den Versuch gestartet dazu. Ich trug zwei, drei Jahre lang nur schwarz, einen Ledermantel, Rocker-T-Shirts voller Skelette darauf, schwarzes Augen-Make-Up, ein Oberteil mit dem Aufdruck „Psycho“ in blutroten Lettern, Schmuck aus Rasierklingen und Sicherheitsadeln, habe nicht mehr gelernt und trotzdem mehr oder minder passable Noten erhalten, meistens jedenfalls. Der Physiklehrer, ich mochte ihn eigentlich ganz gerne, obwohl die Dreigestirne Mathematik-Chemie-Physik nie zu meinen Stärken zählten, holte mich an die Tafel, um mich gegen Bewertung den Stoff der vergangenen Stunde abzufragen. Es wurde eine glatte Sechs. Die Schadenfreude der Klasse war greifbar, mein Schweigen eine verlegene Tortur. Da schaute er mich an und meinte: „Was ist denn bloß los mit dir? Das bist doch nicht mehr du!“. Ich durfte mich wieder setzen. Es war die Pubertät. Der bockige Teenager. Vielleicht auch das allererste Mal, daß ich mir Gedanken machte über meine Existenz, mein Wesen. Bestand meine Identität aus guten bis hervorragenden Leistungen, aus dem Gehorsam, der Adaption an Erwartungen? Das war dann Ich?