38, Teil II: Allerheiligen
Guatemala, November 2016.
Ich genoß das Schaukeln in der Hängematte, das Schwanken, das ich durch den Alkohol fühlte, ohne wirklich betrunken zu sein. Ich überlegte, was ich mir wünschte in meinem Leben, auch hier jetzt wünschte, in dieser Dschungellodge, nachts an einem gurgelnden Bach. Es würde mir jemand gute Worte sagen, „Ich mag dich“, oder „Das ist ein feiner Zug an dir“, oder „Deine Begeisterung macht dich anziehend“. Dieser Jemand würde mich zuweilen an die Dinge erinnern, die mir wichtig sind und die ich trotzdem irgendwie aus den Augen verloren habe durch den Tod meiner Schwester. Er würde mir Rücken, Schultern, Füße massieren. Er würde nach den Büchern fragen, die ich lese. Er würde mich nicht als selbstverständlich betrachten und mich nicht klein reden. Er würde meinen Zorn auffangen, meine Scham beschwichtigen, meine Traurigkeit ertragen. Er würde mich zur rechten Zeit mitreißen wie bremsen, allein durch seine Anwesenheit. Er würde an die Fantasie glauben, an das Paralleluniversum der Möglichkeiten, und an die Ästhetik. Streit wäre Konfliktlösung samt Versöhnung, nicht pures Geschrei mit Beleidigung bis an die Grundfesten der eigenen Identität. Er wäre aufrichtig an mir interessiert und daran, Zeit zu teilen, Lebenszeit. Er würde mich verstehen, obgleich er mir nicht immer folgen kann oder möchte. Er würde sich zu Hause fühlen bei mir. Wir würden verreisen, wir hätten ein Kind. Er wäre stolz auf seine Hausfrau und Schriftstellerin (auch ohne Publikation), Kunstfotografin. Er wäre zufrieden bei und mit mir, erfüllt und inspiriert. Er würde eines Tages sagen: „Die ist es!“ Und ich würde sagen: „Der ist es!“
Die Drachen flatterten knallend im Wind, ihre langen Schweife kräuselten sich und zuckten. Es waren einfache Drachen aus transparentem Papier, federleicht und farbenfroh, sie stiegen hoch und höher und hinein in den Himmel. Die Schnüre hielten stolze Familienväter, beklatscht von den Ehefrauen, umjubelt von den Sprößlingen, die aufgeregt über die archäologische Stätte rannten, den Blick nach oben geheftet auf die Drachen. Da die Städte – Kuben aus Beton, Holz, Glas, Wellblech – überwachsen sind von Strommasten jeder Größe und Bauart, suchen sich die Menschen sichere Orte wie Friedhöfe, Müllplätze oder eben auch Mayaruinen, um dort ungefährdet von tödlichen Stromschlägen am 1. November ihre Drachen steigen zu lassen. Man hält sie für die Boten zum Jenseits, die Gebete, Gedanken, Wünsche zu den geliebten Toten tragen. Ich genoß die ungewöhnliche, heitere Atmosphäre, beobachtete picknickende Pärchen, Rituale abhaltende Schamanen, versprengte Touristen wie uns, die ursprünglich der historischen Artefakte wegen gekommen waren und sich nun im Zauber der lebendigen Gegenwart verloren. Die Friedhöfe in Guatemala werden nicht regelmäßig hergerichtet und besucht wie z.B. in Deutschland, dafür verwandeln sie sich einmal jährlich, zu Allerheiligen, in ein einziges, gigantisches Bad aus Blumen: die ohnehin bunt bemalten Betonkreuze und – schreine, eher nüchtern in Form und Material, werden überbordend behängt mit Kränzen, Gestecken, Ghirlanden aus Strelitzien, Taguettes, Kornblumen, Gerbera, Calla; diejenigen, die weniger Geld zur Verfügung haben, behelfen sich mit Gräsern und wild wachsenden Pflanzen, doch alle, alle tragen zu diesem Fest für das Auge bei: ein schreiendes, schäumendes Ja, ein „Du bist noch bei uns!“, ein „Wir denken an dich!“, ein „Hurra, daß es dich gegeben hat!“ Der plötzlich herabrasselnde Regen störte nicht; er würde dafür sorgen, daß die Blumen weniger rasch welkten.