288 Ausgeflogen
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München, Februar 2025.
Im Horoskop des Monats Januar hatte gestanden, mein Sternzeichen solle so viel als möglich unternehmen, was ich nur zu gerne beherzigte mit Städtetouren nach Paris und Brüssel voll dicht gepackten Programmes, mit einer Matinée im Prinzregententheater und dem Angehen einiger Wohnungsauffrischungsprojekte, dem Anschaffen neuer Hühner, der Lektüre zahlreicher Bücher, darunter die Biografien der Hitchcocks, der Familie Rothschild, Maria Callas´. Das Horoskop hatte auch einen “heißen Flirt” versprochen, und in der Tat wallten die Temperaturen auf in mir, allerdings recht unzweisam in Form einer schnöden Grippe.
Ravels Bolero, in meinem Laientum ausgedrückt, besteht eigentlich aus nur zwei Melodiefolgen, die sich abwechseln, anfangs zart und leise gespielt, dann sich steigernd in der Wiederholung, sich auftürmend wie gigantische Wellenkämme, imposant, fast einschüchternd in der Wucht eines vielfältigen, großen Orchesters, donnernd im Finale. Der japanische Pianist Cateen trug eben jenes Bolero vor, allein, ganz alleine, an zwei Klavieren hantierend. Es war Bolero, durch und durch, von Anfang bis Ende, wie das funktieren kann, ein Rätsel!, ein zarter, schmaler, junger Mann, der ein Stück, geschrieben für x dutzende Personen, aus sich selbst heraus zauberte: der Applaus hernach wollte nicht abreißen, die Begeisterungsstürme. Ich saß in meiner vierten Reihe, außen, unbegleitet, mit klatschenden Händen, der Raum hinter meiner Brust seltsam getröstet: auch ein Einzelner (in meinem Fall: ein Ver-Einzelter, denn ich zog eine Analogie) kann Dinge vollbringen, die man sonst nur einer Menge, einer Gemeinsamkeit zuschreibt. Cateens Bolero war meine Flagge, gehißt auf dem umbrandeten Felsen. Als er spielte vor euphorisiertem Publikum, lächelte ich.
Aus Magazinen kannte ich Mathieu Lehanneur, ein poetisch-sachlicher Objekt- und Interiordesigner, dessen Stil, elegante Formensprache, Einfallsreichtum mich stark ansprechen. Er hatte für Olympia 2024 die Fackel gestaltet und den Ballon, mit welchem das Feuer der Eröffnungszeremonie gen Himmel gestiegen war; in meiner Naivität (oder eher meinem Größenwahn?) fragte ich im vergangenen Jahr eines seiner Möbel an, ein Nachtschrank, dessen massiver Marmorkorpus auf hauchdünnen geblasenen Glasovalen ruht, doch der genannte Preis befand sich weit außerhalb des Machbaren, belief er sich auf einen Mittelklassewagen. Nur so aber, und nicht anders, kann ich mir erklären, daß ich auf der Newsletterliste gelandet bin und eine Einladung für eine Vernissage erhielt, eine Lehanneur-Ausstellung, abgehalten im Pariser Christie´s Auktionshaus… Als ich das edle Entree betrat, empfing mich freundlich eine Dame in schwarzer Livree, die Lippen rotsamten. Sie bat mich um meinen Namen, suchte ihn auf ihrer Liste, strich ihn aus und wünschte mir viel Vergnügen. Ich war noch niemals zuvor Gast einer exklusiven Veranstaltung gewesen! Man reichte Champagner in antiken Kristallkelchen, es wurde geplaudert und stolziert auf musterverlegtem Parkett, getrunken. Über zwei Etagen wurden Lehanneurs Kunstwerke präsentiert, luftig arrangiert und feine Wohnräume nachstellend. Lampen, Sofas, Stühle, Gipsblumen, besagter Nachtkasten. Der Designer selbst war anwesend, hochgeschossen und hager, umlagert von Leuten, die ihn vollquatschten. Ich zog mich zurück zu einem ruhigeren Teil der Ausstellung, wo mein Favorit stand, den ich lange, sehr lange studierte. Es handelte sich um einen niedrigen Couchtisch, rund, gläsern, die Oberfläche der Platte glatt, der untere Teil jedoch aufgeworfen wie ein bewegter, eingefrorener Ozean. Ich weiß nicht, wie es funktionierte, aber wenn man direkt von oben darauf schaute, war das Glas komplett farblos und transparent, wenn man sich aber entfernte und in schrägem Winkel kuckte, waren da plötzlich Blautöne, als kräuselte sich das Meer, als blinke es im Tagesschein, wenn ein Wind es streifte. Und auf den weißen Flor des Teppichbodens fielen Sprenkel und Lichtsplitter, die der Tisch erzeugte, atemberaubend schön und immer anders, umrundete man langsam das “Möbel”, sich mal in die Hocke setzend oder auf Zehen wippend. Es war, als sei das starre Medium gekühlten Glases auf geheimnisvolle Weise wieder flüssig geworden, als wabere dort lebendiges, klatschendes Wasser. Ich hätte Stunden meditieren können darüber, mich erfreuen und eine wieder neue Facette entdecken. Da war sie, die menschengeschaffene Schönheit, die Philosophie, der Frieden der Ästhetik, so rein, so unfaßbar lyrisch, und ich wünschte demjenigen, der sich das leisten konnte, aus tiefster Seele alles Gute, denn ich bin fest überzeugt: wenn man das Schöne schätzt und fördert, indem man es nachfragt, wenn man das tut, retten wir ein klitzkleines Fitzelchen unserer Welt. Ich fühlte mich zugleich sehr klein und sehr unwichtig, aber das war in Ordnung. Ich verließ Christie´s, ohne mit jemand anderem gesprochen zu haben als mit der Empfangsdame, dem Champagnerkellner und dem ozeanherrlichen Tisch.
Ich besichtigte die positiv irrwitzigen Kreationen des Hutmachers Joseph Jones sowie die Dolce & Gabbana Ausstellung zum vierzigjährigen Jubiläum des Labels. Was beides einte, abgesehen vom Modekontext: sie machten mich staunen. Ich war verblüfft, absolut überrascht, und zwar von der Grenzenlosigkeit des jeweils dahinterstehenden Denkens. Da wird nicht überlegt: ist es möglich? Darf man klotzen? Ist etwas zu viel? Übertrieben, ausschweifend, megaloman? Da wird gehandelt, getan. Scheiß auf das, was die kleinen Leute sagen, die angepaßten, engstirnigen Spießer in ihren winzigen Bahnen der Konvention und Langeweile, Leute, wie ich einer geworden bin, denn nur so erkläre ich mir die Wucht, mit denen mich die Kopfbedeckungen, Kleider, Anzüge, Mäntel trafen. Insbesondere die D&G Exhibition wird in die Geschichte eingehen, ganz sicher! Man kann diskutieren darüber, was “schön” sei oder moralisch, aber dieses Kaleidoskop an Fantasie, an Fantasie und ihrer Existenzwerdung, die schiere Größe und Kraft an Ausdruck und Handwerk waren absolut überwältigend. Das “Ich tue das, egal was ihr denkt!”, das “Ich glaube an mich!”, das “Ich bin es wert!”, das “Ich lasse mir keine Grenzen aufzwingen, sozial-gesellschaftliche Beschränkung!”. Ich stand da, Saal für Saal anders dekoriert, ja inszeniert wie ein Bühnenbild, ergänzt durch Licht- und Klanginstallationen, stand da mit offenem Mund. In meinem Kopf, Geist, spukten das winzige Dorf, das kleinliche Deutschland. Es war, als sei ich zum Mond gereist, das Rückfahrticket in der Tasche bereits wieder abgestempelt.
Das surreale Empfinden wurde gesteigert durch die Freundlichkeit der Menschen, die mir vermittelten, respektiert zu sein ohne Wenn und Aber; gesteigert auch durch die plötzlich mit Metallzäunen abgeriegelten, von Maschinengewehr bewaffneten Polizisten bewachten Straßen, die man nicht queren durfte als Passant. Ich hielt es für eine Vision, einen Traum. Drei Reiter auf prächtigen Rössern, darunter ein Schimmel, bliesen die Trompete. Es folgten vielleicht fünfzig weitere berittene Pferde, ihre Hufen dröhnten auf den Asphalt ein rhythmisiertes Stakkato. Paradeuniformen, Fahnen. Ein Motorradkorso schloß sich an, keine Ahnung wieviele schwere Teile, und es gab drei Limousinen, mehrere Vans. Aus einem schwarz lackierten Mercedes kuckte halb verspiegelt von der dunklen Scheibe ein Mann heraus mit ruhiger Miene, die zusammengelaufene Menge begutachtend. Eine neuerliche Formation an donnernden, bebenden Gäulern zog vorüber und dann, in einiger Entfernung, drei grüne Kehrfahrzeuge in der Größe von Bulldozern, die die Hinterlassenschaften der Pferde aufsammelten… Der Präsident von Angola befand sich auf Staatsbesuch in Paris, zufällig hatte ich seinen Einzug bezeugt.
Ich kann nicht alles aufzählen, etwa die besonderen Gemälde des XXX Bruno, oder meine Erlebnisse in Brüssel, das Innere des Atomiums, die Oldtimer-Maserati der Auto World, die uralten Bentley, die schicken Sportwagen, der Ford-Camper aus dem ersten Viertel des 20 Jahrhunderts, der schon genauso aufgebaut war wie heutige Wohnmobile… Die Kunstmesse mit ihren Schätzen und Kostbakeiten und Absonderlichkeiten wie einem versteinerten Plesiosaurier(?)-Skelett samt zweier Jungen im Bauch… Nein, ich möchte niemanden langweilen mit dem, was mich genährt hat, bereichert, verzaubert.
Aus einem Bilderbuchhof in Alleinlage, umgeben von Wiesen, Forst, Obstbäumen holte ich zwei Hennen, die sich aufgrund minimalster Makel nicht zur Zucht eigneten. Auf der Heimfahrt sprach ich mit ihnen, wie sie in ihren Kartons harrten. Daß sie es gut haben würden bei mir. Daß ich sie schon jetzt möge, daß ich mich kümmern würde, mich mit ihnen beschäftigen, sie mit feinem Futter und Leckerbissen verwöhnen. Ich gelobte ihnen den Himmel auf Erden. In der Voliere dann öffnete ich den ersten Karton, das braun gesprenkelte Hühnchen kletterte hinaus, unter den Bambus huschend. Ich schlug den zweiten Deckel auf. Ich sah es weiß-schwarz gesäumt auffliegen, panisch. Es war so wild, so ungestüm und kräftig, daß es die geschlossene, jedoch unverriegelte Volierentür aufstieß, hinaussschoß, erst in den eigenen Garten, dann in fremde, weg aus dem Blick, aus meiner Zuständigkeit. – Nun hat es abends kein trockenes Dach über den Kopf, keinen kuschelig warmen Stall. Es hat keine Gefährtinnen, keine getrockneten Würmchen, Käsestücke, keine Feld-, Rucola-, Bataviasalate, keine Petersilie und Postilein, keine zärtlichen Worte und keine Fürsorge. Verängstigt stromert es auf anderer Leute Grund herum (ausgerechnet jene, die gerne ganze Schweine am Spieß braten im Sommer und die gewiß auch kein Huhn verschmähen würden, erwischten sie es), verlassen, aus seiner Heimat herausgerissen, die ein Paradies gewesen war. Ich habe mein im Auto gegebenes Versprechen binnen fünfzehn Sekunden gebrochen… Ich habe geweint, sehr geweint. Ich habe um mein kleines Hähnchenmädchen geweint, aber viel mehr noch über mein Versagen. Nichts kriege ich zustande, nichts gelingt mir. Die Leute mögen mich nicht, ich mag die Leute nicht. Das Dorf ist häßlich und kleingeistig, wie die Deutschen – wir – es sind. Es hat sich mir eingebrannt, das Bild der auftreibenden Flügel, ein schwarz-weißes Flattern, wie sie gegen die Tür krachen und sie aufdrücken und der Vogel hinausshießt, und es ist, als flüchte dort nicht nur ein Huhn, sondern als flüchte dort all die Liebe und all das Gelingen und jeder letzte Rest Hoffnung an eine Zukunft mit hinaus, es ist gar, als eile mein Leben selbst davon. Und Paris verspottet mich und Brüsse höhnt, wie ich nur hätte glauben können, ich sei es wert, die Kunst Lehanneurs, die Grandezza Dolce & Gabbanas, die schimmernden orange und hellblau lackierten Maseratis, die Kultiviertheit und Verrücktheiten blühender Fantasie. Mein Herz ist ausgeflogen, meine Seele, mein aufkeimendes Getröstetsein im Schönen. Hier gibt es kein flüssig blinkendes Glas, kein Geschwader an trommelnder Pferdehufe. Hier gibt es geschnittene Sträucher, gefällte Bäume, Trampoline und Plastikrutschen und unfreundliche Kommentare jeden einzelnen Tag. Es tut mir leid, mein liebes kleines Hühnchen, daß ich nicht aufgepaßt habe auf dich. Es tut mir leid, liebes kleines Leben, daß du nicht verweilen magst, nicht gelingen.
Im Horoskop hieß es, Saturn habe das Fischezeichen die letzten beide Jahre derart gestärkt, daß man nun genügend Reserve habe, Dinge anzupacken und zu verwirklichen, daß man vorankomme. Ja. Da wird es dann offensichtlich: Astrologie ist nichts als Humbug – obwohl ich gewiß unter einem miserablen Stern geboren worden bin…
Das Schreiben ist zu unregelmäßiger Holprigkeit verkommen, die Fotografie erloschen. Statt einer Leica gibt es zum runden Geburtstag die Bundestagswahl und keine Feier. Den Blumenstrauß habe ich mir selbst bestellt.
Kleines Hühnchen, ich bitte dich: komm zurück… Mein Leben brauchst du nicht mitzubringen, ich bin zufrieden, wenn wenigstens du es gut hast bei mir.
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