307 Miniaturen der Vereinzelung

München, Oktober 2025.
Ich stand am höher gelegenen Saum, aufs drübere Ufer blickend. An ihm erhob sich ein dichter, saftiger Wall aus schlingendem Laub, als ergösse sich eine Pflanzenfontäne über die gesamte Länge des Lech. Dunkelgrün und herbstrot leuchteten diese Kaskaden, elegant geschweift, sich zum blinkenden Wasser hinabbeugend. Auf ihm dümpelten Schwäne, eine ganze Familie, drei Ausgewachsene, ein Graues. Ihre gebogenen Hälse und aufgefalteten Flügel wiederholten die Formen der Vegetation auf bezauberndste Weise. Wenn man die Augen zusammenkniff, dorthin fixierend, wo die späte Nachmittagssonne ihre Lichtkugeln und -streifen warf, hüpfend im Fließen, die Lider fast komplett zusammenpreßte, dann erschienen Blitzbälle am Innenrand der Wimpern, abstrakte, helle, ausgefranste, rundliche Kleckse aus reinstem Silberbeige.
Invasionen fielen ein, anders nicht zu nennen. Sie schrien und lärmten, belagerten den mächtigen Nußbaum, die Fichten, die Weide, Obstbäume, sämtliche Sträucher und die Wiese (deren kleinster Teil nur noch Rasen ist). Wenn sie etwas aufscheuchte, ein Passant hinter dem hohen blickdichten Zaun, ertönte ein Rauschen, anschwellend und niedergehend wie stürmische Meeresbrandung, ein Rattern schlagender Flügel im leicht verzögerten Gleichtakt. Brrrrrrrrrrschschschssssssstttttt. Stille. Bis sie zurückkehrten, stets als Horde, trillierend, kreischend, pfeifend, Stare in hellbraunem Punktkleid, Wintertracht, Stare, bestimmt einhundert, zweihundert Stück, angelockt vom großzügig ausgelegten Futter, gehackte Erdnußkerne. In die Stare mischten sich Spatzen, Meisen, Buchfinken, zuweilen wilde Tauben, Spechte, Kleiber. Sie leisteten akustisch den Hühnern Gesellschaft, meinen schönen Damen, bunt und drollig. Manchmal setzte ich mich dazu, auf einen gelben Plastikklappstuhl, zwischen die Hortensien und Farne und Riesenfunkien, während meine Hennen zufrieden scharrten und ich in einem Einrichtungsmagazin schmökerte, das angefüllt war mit hübschen, ansehnlichen, inspirierenden Sachen. Ich ruhte dann zwischen rötlich überhauchten, prächtigen Blütenköpfen, letzten Rosen in allerlei Gestalt und Farbe, umgeben, ja: eingehüllt von Vogelkörpern, die Hühnchen am Boden, die Stare überall sonst, die wie Affen im Urwald kreischten, oft eine Stunde lang und mehr, unbeschreiblich der Krach, der nicht störte, sondern sich einem ins Herz hineinsenkte.
Eine gute Weile flanierte ich im neuen Dirndl – das letzte hatte ich vor einundzwanzig Jahren gekauft, es paßte eigentlich noch immer – über das Oktoberfest. Es war zufällig der Tag nach der Sperrung des Geländes, die Leute schienen noch zaudernd, es war verhältnismäßig wenig los an diesem Mittag. Ich vermißte ein bißchen den ausgelassenen Trubel, das Gedränge und Schlange stehen vor den Fahrgeschäften, irgendwie doch gehört das dazu. Vom Riesenrad aus erkannte man am besten die Einbußen, die die Jahrmärktler kassieren mußten, so viel freie, unbegangene Fläche hatte ich noch nicht gesehen; auch in den Zelten zeigten sich ungewöhnlich häufig unbesetzte Bankreihen, undenkbar! Mein neues Dirndl entsprach offensichtlich nicht der diesjährigen Mode, die ein bißchen an Prinzessinnen-Brautgewand erinnerte, glänzender synthetischer Satin in sanften Pastelltönen, creme, elfenbein, silbern, hellblau, sanftrosa, dazu über und über mit Pailletten bestickte Schürzen, runde Pailletten, ovale, schillernd, und auch Spitzenbesatz. Die Mädchen schauten alle sehr apart aus, adrett und chic, sie gingen zu zweit, zu dritt, in Gruppen, lachend, oder sie hatten ihren Arm beim Freund eingehakt, beim Ehemann. Mein Dirndl war baumwollen, currygelb mit kleinem abstrakten Pfauenaugenmuster, die Schürze grau gestreift mit Brokatdessin, in bestimmtem Schein violett oder smaragdgrün schimmernd. Ich fühlte mich trotzdem wohl in meinem Dirndl, von dem ich glaube, es war so ziemlich das einzige gelbe heuer: na, wenn ich es wieder über zwanzig Jahre behalte, wird es irgendwann einmal en vogue sein, man braucht bloß lange genug zu warten… Ein Zelt gefiel mir besonders gut, obwohl ich alle Dekorationen sehr schätze, die üppigen Hopfenbüsche, der sich langsam drehende, Harfe zupfende Aloisius, der brüllende Löwe, der aus Gründen der neuerdings überkorrekten Sittsamkeit leider seit einigen Jahren nicht mehr rülpsen darf, so wie er es zu meinem Entzücken in der Kindheit getan hatte, eine „Löööwenbräääääuuuuuu!!!“ aufstoßende, gigantische Kunststoffskulptur, das hat einen durchaus beeindruckt damals und amüsiert… Riesige, an Bändern aufgehängte Pflanzenkränze waren geschmückt mit baumelnden Brezen, bunten Lebkuchenherzen, Blumen, Beeren, Schleifen, mußevoll komponiert, das mochte ich am meisten. Es geschah häufiger, daß Männer mich zu sich an die Tische heranziehen wollten, mich antanzten, zuwinkten, mich riefen, vor allem gegen Nachmittag, als sich die Wies´n endlich ein wenig füllte und zu ihrer alten Form zurückfand, aber es waren entweder wirklich alte Männer oder aber extrem junge, und ausnahmslos waren sie betrunken (nicht angeschickert, sondern hochgradig besoffen), und ich war mir nicht sicher, ob das wirklich ein Kompliment war, diese Aufmerksamkeit, oder ob ich nicht eher beliebig und zufällig erwählt wurde… Heuer besuchte ich den Flohcircus nicht, es erinnerte mich zu sehr an fröhliche Tage, als man noch eine Vielzahl Freundschaften pflegte, aber für den „Jules Verne Tower“ löste ich eine Karte. Mein Platz im Kettenkarrussell wurde mir neben einer reifen Dame zugewiesen, weit über siebzig; für ein paar kurze Minuten hatten wie Spaß, wir zwei, sie Fremde und ich, wir lachten und schäkerten und plauderten, als hätten wir uns immer gekannt, dort oben in sausender, gruselnder, bitterkalter Höhe, wo wir uns in achtzig Metern drehten und drehten und ich hoffte, meine Ballerinas nicht zu verlieren, die ich ganz doll mit den Zehen festhielt. Wir froren und juchzten, scherzten, stiegen mit wackeligen Knien aus. Wir verabschiedeten uns höflich, vorbei, weg, für immer, Symbol für die Gesellschaft in meinem Leben. Adieu, gute Frau, habe die Ehre, Servus und Pfiati Gott.
Es war eine französische Maschine mit vier oder fünf Sitzen, eine Robin. Es fühlte sich unwirklich an, neben dem Piloten zu sitzen. Über mehrere Monate hinweg war dies der halbdutzendste Versuch gewesen, den Alpenrundflug wahrnehmen zu können, den meine Eltern mir zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatten. In diesem verrückten Jahr voller Regen und Hitze, frischer Luft, Trübnis und sengender Sonne, war es bei jedem vorigen vereinbarten Termin so gekommen, daß ein heftiges Gewitter wütete und der Flug abgesagt werden mußte. Im Cockpit gab es unfaßbar viele Knöpfe, Hebel, Schaltflächen, Anzeigen, eine verwirrende Armatur. Ob ich sicher sei, daß ich mit diesem Pilot unterwegs sein wolle, fragte ein Herr, der an die Scheibe geklopft hatte, schmunzelnd-neckisch. Er brachte mich nicht aus der Fassung damit. Tatsächlich waren etliche Piloten neidisch, nicht mit mir fliegen zu dürfen; nein, es spricht aus mir nicht die eitle Arroganz, es hat einen sachlichen, guten Grund: ich bin eben sehr leicht, während andere Fluggäste ordentlich Gewicht mitbringen, wodurch sich der Flug in dieser zarten Maschine stark wie radikal verändert. Mein Pilot also hatte Glück mit mir – ich glaube, es bereitete ihm gar mehr Freude als mir selbst, die ich es schon genoß. Obwohl September, grünte die Landschaft unter uns saftig; wir zogen über Wiesen und Hügel hinweg, auf denen die Kühe ästen und Häuser wie Spielzeugwürfel verteilt waren. Bald sah man in der Ferne den Bregenzer Wald, den Bodensee, aber wir drehten in die andere Richtung, der Nagelfluhkette zu, apart geschichtete Bergflanken, zu denen empor sich ausgetretene Pfade wanden, an ruhigen, entlegenen Almen vorbei. Wir trudelten über Österreich hinweg, das Tannheimer Tal. Wir umrundeten schroffe, raue Gipfel, nackt und steil, darauf wie grober Puderzucker verstreut die tapferen Wanderer und Kletterer in Neonfarben. Manche baumelten an Seilen wie diese alten Holzfiguren, die scheppernd hochschnellen, wenn man an der Schnur zupft. Der Pilot machte sich einen Spaß daraus, nahe an die Leute heranzufliegen, sie aufzuschrecken und zu ärgern (was er eben nur konnte, weil ich nicht zu schwer war und die kleine, empfindliche Maschine somit gut ausbalanciert). Er zeigte mir einen Berg mit gesprengter Spitze, ein steiler Kegel, durch den sich eine beeindruckende Schlucht zog, Gewalt der Erosion und Witterung. Eine einsame Frau stand neben dem Kreuz, ich bewunderte sie dafür, daß sie es dorthinauf geschafft hatte (und später wieder hinunter), scheinbar den Wolken näher als dem irdischen Grund. Woanders leuchtete das Gestein rötlich-rosa, ein besonderer Granit, dessen Namen ich wieder vergessen habe. Loopings veranstalteten wir keine, aber zuweilen legten wir uns in tiefe Schräge, rauschten knapp an Kanten vorüber, senkten uns in ein Tal hinab oder stoben auf wie ein Paperdrachen im Wind, dann ruckelte es auch, wie es sowieso regelmäßig knackte in den Kopfhörern, über die wir den gesamten Funkkontakt mitbekamen. Nach vierzig Minuten war der Spuk vorbei, holperten wir wieder über den Rasen des Flugplatzes, war der Gutschein eingelöst, das Geschenk überreicht. Es war nett gewesen, interessant. Die Szenerie anmutig-pittoresk, das Erlebnis vergnüglich, keine Frage; meine Feier ersetzte mir das nicht, die Blumenbouquets, die es nicht gab, die edlen Speisen, die nicht serviert wurden, das Lachen und Herumalbern und Miteinander, die Kulisse der Freundschaft und Liebe, das Willkommensein im Leben, die alle nicht existierten. Nicht einmal Sekt war ausgeschenkt worden (geschweige denn Champagner).
Ein Bildband bereitet mir viel Wohl. Ich genieße die ästhetischen Fotostrecken, die Erläuterungen zu den Arbeiten, die teils biografischer Natur sind. Es handelt sich um ein Buch, in dem ein preisgekrönter deutscher Florist einige seiner Werke präsentiert, seine Vorgehensweisen erläutert, Ratschläge zum Nachgestalten erteilt. Es lädt ein zum Träumen und Schwelgen, ein Genuß für verfeinerte Sinne. Und dann hat es mich zum Lachen gebracht! Ich lache so selten, daß ich es im Blog fast jedes Mal erwähnen muß, wenn es passiert. Ich zitiere einfach Björn Kroner, der von einer Pflanze namens Ballonwein berichtet: “Apropos Ballonwein: Wenn man die grünen, ballonartig aufgeblasenen Früchte vorsichtig öffnet und die perlengroßen schwarzen Samen herausnimmt, dann kann man auf der Rückseite der Samen ein kleines weißes Herz erkennen. Probiert es mal aus! Dieser Tipp hat einen durchaus romantischen Effekt. Weniger romantisch und eher ein Witz ist dagegen der botanische Name der Pflanze: Cardiospermum halicacabum.“ Als ich den lateinschen Begriff halblaut vorlas, explodierte ein Heiterkeitsanfall in meiner Kehle, ich kringelte mich lautstark, sodaß mein Hund sich bemüßigt fühlte, nachkucken zu kommen, was sein Frauchen da ergriffen habe und ob man da gegebenenfalls helfen müsse… Ich lachte Tränen, minutenlang!, ohne einen anderen anzustecken mit meinem Lachen, es versickerte in den Wänden der Wohnung, in den Vorhängen und Teppichen, mein Lachen.
Sie spielten Edvard Grieg, das Publikum toste. Ich trug die lila Seide, weiße Pumps, viel Make-Up und Schmuck, das Haar aufgesteckt. Ein Jüngling in der Reihe hinter mir war auf Hals, Nacken, kahl rasiertem Hinterkopf tätowiert, ein realistisches, gut gestochenes Frauenportrait, das nun dort das Leben mit ihm teilte. Er war folglich nie allein, haha. In der Empore über mir hockte ein anderes Männchen, Ende zwanzig vielleicht, lässig in Jeans, Hemd, Cordjacke gewandet. Das volle, üppige, kurz geschnittene Lockenhaar war violett und pink gefärbt; er hätte mir visuell eine gute Begleitung abgegeben. Ich beklatschte das Orchester (die Dirigentin hampelte mir zu viel herum, Entschuldigung, ich bin ein Banause). Grieg unterhielt mich, leichte, fröhliche Kost. Ich klatschte und sprach mit niemandem.
Ich kucke Sendungen im Fernsehen über Leute, die abgenutzte, modernde, verfallene, baufällige Gutshäuser aus eigener Kraft herrichten. Oder Fixer Upper mit dem Traumpaar Chip und Joe, die Bruchbuden vermitteln und abgestimmt aufs Budget der Kunden ohne deren Einwirkung herrichten – man hat dann quasi ein Blind Date mit seinem neuen Heim… Jedenfalls gibt es da viel Tatendrang, Leidenschaft, Miteinander und handfeste Resultate, Ergebnisse, die stolz machen und zufrieden. (Und übrigens ein Jahresnettoeinkommen von fünfzig Millionen US-Dollar bescheren.)
Ich wiederum tippe nur an diesem kläglichen Blog. – Daß es eine Absage war, erkannte ich am Sendernamen, der nicht die Hauptverantwortliche war, sondern eine Vertretung. Ich wußte schon, daß man mich abgelehnt hatte, bevor ich die Mail öffnete. Ich hatte mich mit der besten Geschichte, die ich je zu verfassen imstande gewesen war, beworben für ein mehrtägiges Schreibseminar des Literaturhauses München, staatlich gefördert, sorgsam kuratiert, und war für nicht würdig befunden worden. Es tat nicht einmal weh, es fügte sich nahtlos ein in meine Erfahrungen. Sollte ich je im Selbstverlag veröffentlichen, dann unter dem Pseudonym Mademoiselle Refusée.
Es klingelte nicht unvermutet, unangekündigt an der Tür. Entweder es lagen ihm die Fische doch mehr als Frauen, oder aber ich war nicht genug Frau – vielleicht auch er nicht genug Mann, crazy, draufgängerisch, zupackend, gewitzt. Ich dachte, er sei ausreichend stark, willens. Aber er war nur eine Geschichte. Und wie man zu meinen Geschichten steht, hat sich ja erwiesen.
Der Schwarm Stare ist weitergezogen. Es scharren die Hühnchen, ich blättere zwischen den erröteten Hortensien dick eingemummelt im Interiorheft. Es wird schon seine Richtigkeit haben, alles. Ich denke an die herbstbunten Laubranken am Fluß, die Schwäne auf dem Wasser. Ich kneife die Augen zusammen, nicht ganz, aber fast, bis Blitzbälle am Innenrand der Wimpern erscheinen, abstrakte, helle, ausgefranste, rundliche Kleckse aus reinstem Silberbeige.
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