305, Teil IV: Sprichst du füchsisch?

Grönland, August 2025.
Ich bin nicht verliebt in ihn, bin nicht schmachtend, lechzend, zerfressen von Sehnsucht und Traurigkeit. Ich glaube, und eher bin ich sogar überzeugt davon, ich kann gar nicht mehr lieben, zu viel ist zerschmettert in mir, zu oft die Seele gestorben im lebendigen Leib. Längst habe ich mich eingerichtet in meiner Enklave, körperlich, mental, mich abgefunden mit dem Alltag ganz allein, in dem oft sogar simple Freundschaften fehlen, nette Worte, bescheidene Gesten der Zuneigung. Meine Liebe galt Grönland; doch hätte ich kein Problem gehabt damit, geküßt zu werden unter den langsam tanzenden Schleiern des Polarlichts. Der Sonnensturm war derart stark, daß man sogar in Teilen Deutschlands Gelegenheit hatte, die Aurora Borealis am Nachthimmel zu studieren. Nun, ich befand mich in Kulussuk, das Gesicht emporgewandt zu Sternen und Farbschlieren. Mich fror im Mitternachtswind, und er gab mir seine Jacke, nicht ganz unerwartet, wie ich gestehe, aber einen Kuß, den gab er mir nicht. Ich wäre ihm gerne mit den Fingerspitzen über den Nacken gestrichen, den festen, definierten, und über die Augenbrauen. Ich schrieb ihm später, zurück daheim, eine Nachricht: You are better in catching fish than in catching girls. Er antwortete: At least I caught Your attention. Ich erwiderte: It is quite easy to pay attention to men standing on an iceberg half-naked.
Der Wellenring zog auf mich zu, runde Schicht um runde Schicht dehnte sich aus, den kleinen Eisberg verlassend, der gerade unter dumpfem Krachen ein Stück seiner selbst verloren hatte, als es brach und ins Wasser fiel. Bergketten umgaben mich von allen vier Seiten, manche rau, hoch aufragend mit ewigem Schnee bedeckt, andere bräunlich und runzlig, ganz die Morla aus der „Unendlichen Geschichte“. Ich saß auf einem leicht höher gelegenen Plateau nahe des Fjordufers, neben mir eine Quelle abwärts gurgelnd. Drei Männer harrten als Silhouette in der Ferne aus, die Angelruten schwingend. Die amorphen und zugleich kantigen Eisgebilde, weiß, gräulich, türkisen, nahmen im tiefen Abenddämmer einen violetten Ton an. Die Sonne hauchte dezent einen Abschiedsgruß auf den blanken, fast unbewegten Spiegel des Meeresarms. Seevögel piepsten und schrien in dezenter Beständigkeit. Irgendwo atmete ein Wal – es klang, als befände sich ein Drache unter uns, nicht einschüchternd aber mächtig. Dieses war der Moment, in welchem ich angelangt war auf Grönland, unweigerlich, in dem ich hatte meinen Schwur einlösen können, dorthin zurückzukehren. Ein paar Tränchen verdrückte ich, der Schwester gedenkend, aber ich beschloß, daß es reichte mit dem Trauern und ich ging zu den Angelsilhouetten. Die albernen Kindsköpfe hatten beschlossen, zu baden. Zu dritt machten sie sich zu schaffen an einem der kleinsten Eisberge in Ufernähe, dort, wo sie noch stehen konnten, wenngleich das Wasser ihnen an die Hüfte reichte. Sie erklommen den Eisberg, siegerstatuengleich, winkten, lachten. Sie sprangen hinab und machten sich daran, den Eisberg zu verschieben im Wasser, was ihnen einige Mühe bereitete. We are cleaning the beach!, rief einer, und das war derart herrlich doof, daß ich mich köstlich amüsierte darüber.
Er zeigte mir, wie man Steine springen ließ auf dem Wasser, immerhin drei Mal hüpfte einer meiner Versuche über die Oberfläche, ehe er auf Nimmerwiedersehen verplumpste.
Ein Polarfuchs folgte uns, kaum hatten wir das Boot verlassen. Er befand sich im Wechsel zwischen Sommer und Winter, das Fell war hell aschfarben. Zielstrebig hastete er den Pfad hinauf, bis er bei uns angelangt war, die wir eine kurze Trinkpause eingelegt hatten. Und nun tue ich das, was man Aufsplitten in objektive Realität und erzählte Wirklichkeit nennt, denn sicherlich war es schlicht so, daß das Tier ein eher zahmes, wenig scheues Individuum gewesen war, welches gelernt hatte, daß menschliche Anwesenheit eine gute Chance auf Futter bedeutete. Der Fuchs mag sich faktisch betrachtet allen gegenüber als gleich aufgeschlossen erwiesen haben. Das ist aber nicht die Story, die ich mir selbst erzählen möchte! Ich möchte eine andere erzählen, möchte mir die Gegebenheiten modulieren, wie sie mir gefallen, mir einen Zauber bewahren, der meine Lippen in ein unmerkliches Lächeln biegt… Wir standen in der Senke einer kleinen Kuppe, das Tier stromerte auf uns zu. – Ich lud es ein. Hieß es willkommen, etwas aussendend, von dem ich glauben will, daß manche Wesen es wahrnehmen können. Ich ging in die Hocke, die Handflächen ausgebreitet, beinahe wie bei einem Segensgestus. Ich rief den Fuchs innerlich zu mir, bot ihm die Gelegenheit eines Kontaktes, und er ging darauf ein. Ich verband mich mit dem hübschen Kerl, der sich längst verwandelt hatte in eine Ginsterkatze, Grönland rutschte nach Kenia, der Vormittag glitt in abendliches Dunkel (vgl. Beitrag 30). Ob ich füchsisch spreche, fragte mich – wer sonst – Austin, ich bejahte seinen Spaß in umfassendem Ernst. Ich beschwichtigte jede aufsteigende Furcht, bat ihn heran, den Fuchs, und wäre die Ungeduld der anderen nicht gewesen, die Aufbruchstimmung (sie hatten ihr possierliches Foto geschossen, mehr benötigten sie nicht), ich wäre länger verweilt und hätte versucht, die Kommunikation zu vertiefen. Ich weiß, daß Tiere sehr stark reagieren auf mich, und zwar in zuwendender Art, neugierig, vertrauensvoll bis zu gewissem Grad, und ich behaupte einfach: das Tier blieb zutraulich, weil es sich geschützt wußte durch mich. Die meisten höre ich an dieser Stelle spotten, während sie die Augen verdrehen, aber das ist das Gute daran, wenn man sich um Menschen kaum mehr schert (und übrigens gar keine Leserschaft hat, die einen be- oder verurteilt): man kann sich die Geschichten so einrichten, wie es einem paßt, allgemeingültige Wahrheiten ignorieren und sich im Träumerischen verlieren. Eines meiner Fotos, die ich machte vom Füchslein, ein Hochformat, zeigt in der Komposition eine Ellipse, zwei sich zuwendende Körper, der große Menschenmann sich leicht hinabneigend, das zarte Tierlein aufschauend, beide verschmelzend mit dem grönländischen Bergpanorama. Ich glaubte, mitzukriegen, daß beide eine lautlose Unterhaltung führten. Daß er es also selbst spreche, füchsisch. Von diesem Moment an war sie da, die Verbindung zwischen uns, dem Menschenmann und mir.
Im Alten Hafen Reykjavíks lag die „Tara Polar Station“, ein futuristisch wirkendes Schiff, ein UFO auf dem Meer, die Form rund und gebildet wie ein Schlauchboot, darauf eine orangene Kuppel aus lauter Hexagonen, gläsern, stählern. Wir googelten, daß sie aus Tromsö ausgelaufen sei und ich wünschte mir, Audun sei an Bord, so sehr, daß ich ein Crewmitglied ansprach, das gerade am automatischen Flaschenzug arbeitete. Franzose war er, verschmitzt antwortete er mir, eine Frage sei erlaubt, und ich stellte sie kurz und klar: ob Audun Rikardsen anwesend sei, der Meeresbiologe. Er erklärte, die „Tara Polar Station“ führe grundsätzlich ohne Wissenschaftler (was ich als sonderbar erachte für ein Forschungsschiff…), sie sei eher eine Art Begleitung etwa der „FS Polarstern“. Seine Augen lächelten, es lag Bedauern darin, mich enttäuschen zu müssen. Ob ich denn Wissenschaftlerin sei – von einer Urlauberin habe er solches Interesse nicht erwartet, ich klärte ihn nicht auf darüber, wer Audun war und weshalb ich ihn hätte treffen wollen (weshalb denn nun?).
Im Gästehaus in Kulussuk blätterte ein Mitreisender in einem Bildband. Daß die Bilder Carstens Charakter hätten, dachte ich mir, aber Carsten fotografierte schwarz-weiß anstatt farbig wie dort. Ein beleuchtetes Expeditionszelt unter grünem Polarlichtschleier war so sehr Carsten Egevang, daß es mir fast den Atem verschlug. Ich kuckte den Autor bzw. Fotografen nach: es war Carsten! Er hatte sich an Farbfotografie versucht! Ist das eine fotografische Handschrift, wenn man jemandens Bilder erkennt, obwohl dieser den ihm üblichen Stil gewechselt hat…
Auf die eine oder andere Weise hatte ich alles, was ich mir erwartet hatte von Grönland, Eisberge und Sonnenschein, berstende frühherbstliche Farben, nette Gruppenmitglieder, Bewegung auf abwechslungsreichem Terrain, Zelt- und Campabenteuer, Gebirgsformationen, kissenweiche Pflanzengründe, kosenden Wind, glitzerndes Wasser, Tierbeobachtungen, Flußstürze, Stille und Erhabenheit, Humor, Unbeschwertheit, den einen oder anderen erhaschten Blick, unergründlich, lakritzschwarz. Ich konnte innerlich Hallo sagen, Hallo Westgrönland 2017, Hallo Audun, Hallo Carsten, und zugleich: Danke! Danke für die Begegnung mit euch, damals wie heute, Danke Grönland, für deine Weite und Geduld, deine unbezwungene, harsche Wildheit. Wir waren stark genug für einander, wir durften wir sein, im Gestern wie im Heute. Und von allem, was schief läuft und was ich schlecht bin, ungenügend, jetzt wie in Zukunft, hast du, Grönland, mich wieder zu dem herangeführt, was ich im allertiefsten Seelenatom bin und immer – auf immer! – bleiben möchte: untamed.
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