303, Teil II: Wasser Faux-Pas

303, Teil II: Wasser Faux-Pas

Grönland, August 2025.

Unausweichlich passierte es. An Dämlichkeit nicht zu überbieten, erwischte ich trotz dargebotener helfender Hand den richtigen Stein nicht, rutschte ab und aus, mit beiden Schuhen im kraftvollen Wasser landend, das mich wegdrückte, hinab, und somit die um den Hals hängende Kamera ertränkte. Ich schoß nach oben, mich nicht um Kälte scherend, um das schmerzende Schienbein, ich ahnte, das Gehäuse hatte sich vollgesogen, aber die Speicherkarte, wenigstens die, wollte ich retten, und so riß ich sie augenblicklich aus dem Slot. Später würden sie sagen, die sämtliche Gruppe als Zeuge peinlichster Blödheit, sie hätten solch eine blitzschnelle Reaktion noch nicht gesehen, aber ich wußte, das Kompliment beruhte leider auf meinem reichen Erfahrungsschatz an mißglückten Überquerungen wasserführender Strukturen – weder mein erster Sturz, noch die erste gecrashte Kamera waren das für mich gewesen, tja. Was mich jedoch überraschte, überwältigte und überforderte: die sich darbietende Freundlichkeit von allen Seiten, ob ich frische Socken benötigte (sinnlos, meine Bergstiefel hatten sich in Mini-Aquarien verwandelt), Pflaster, Siliziumpads; der Guide versorgte die Fuji, als sei sie ein verstauchter Knöchel, sie öffnend, abtupfend, sacht schüttelnd, sie sorgfältig zusammenfügend nach der Demontage. Hernach am Zeltlager würde mir mehrfach das Angebot unterbreitet werden, anderer Leute Kamera zu verwenden, um eigene Fotos zu schießen, darunter sündteure Vollformate. Und ich konnte es fast nicht ertragen, diese Freundlichkeit, diese Zugewandtheit, wo man mir in all den Jahren so viel Schmerz bereitet hatte, der fast an Grausamkeit grenzte, ein Schmerz, den ich inzwischen derart gewohnt war, daß mich alles andere ängstigte. Meine abwehrende, beschwichtigende Reaktion muß befremdet haben, vielleicht gekränkt, aber man kann eine Haut nicht einfach so abstreifen.

Nur was fühlte ich eigentlich? Die Scham über das Malheur brannte nicht zu arg. Mich befielen weder Ärger, noch Frust oder Traurigkeit. Ich bedauerte nur leise, daß ich ausgerechnet Grönland nicht fotografisch würde übersetzen können, daß mir lediglich meine Sinne, Emotionen, Gedanken und Worte verbleiben würden, es zu bannen, umzuformen, es zu meinem Grönland zu machen. Ich verpaßte herausragende Gelegenheiten für seltene Bilder, ja. Verpaßte sie aus Ungeschicktheit, die mir eigen ist und vermutlich immer sein würde, ewige Anti-Heldin.

Was fühlte ich? – Dankbarkeit! Dankbarkeit darüber, Wildnis erfahren zu dürfen, Grönland, Dankbarkeit über aufflutende Erinnerungen an Menschen früherer Touren, an andere Begegnungen, denn meine Biografie, die speist sich nicht aus äußeren Fakten (Geburt, Schule, Universität, fertig), die ergibt sich aus Gerüchen, Farben, Gesprächen, aus Träumereien, Hoffnungen, aus Flüchtigem, Intensivem. Austin war es gewesen, der gefragt hatte, halb im Scherz und halb ernsthaft, ob ich denn unterwegs „Soul Searching“ betreiben würde, und ich hatte erwidert, im Kopf bloß, nein, es sei eher so, als würde ich etwas einsammeln, aufsammeln und zusammenfügen zu einer Art diffusem Sinn. Ich habe mich arrangiert mit dem Versagen die letzten Jahre, mit Ablehnung und Ausgestoßensein, mit Underachievement, es auf fast zen-hafte Weise akzeptierend, sie annehmend, die eigene Wert- und Bedeutungslosigkeit. Das Mißverstandenwerden, das Unverstandensein, das tiefgreifende nicht Gemochtwerden, nicht Geliebtsein. Aber wenn ich dort bin, dort draußen in der Welt, sei es in einer spektakulären Pariser Mode-Ausstellung oder auf einsamer Erde, wenn ich dort etwas aufhebe und einstecke, wenn ich Widrigkeiten überwinde, sogar klaglos zum ersten Mal, wenn ich mit Fremden spreche wie zu engen Freunden nicht, wenn mir der Wind lose Haarsträhnen über das Gesicht kitzelt, und ich Kälte spüre, Hitze, Anstrengung, Verzicht, wenn ich gehen darf, sehen, hören, riechen, sein, wenn ich einfach sein darf, ohne Wenn und Aber, dann bin ich der Freiheit nahe, so verdammt nahe, wie nur wenige Menschen, die ich kenne, und diese Freiheit ist das Glück in seiner reinsten Form.

Ich fühle mich dann unbezwungen, ungezähmt, wild, so sehr, daß ich es mir vielleicht tätowieren lassen werde: untamed.