302, Teil I: Begegnung

302, Teil I: Begegnung

Grönland, August 2025.

Manchmal gleicht die Begegnung mit einem Menschen einem Eintauchen in einen See an stickig-heißen Tagen. Erschöpft von hohen Temperaturen, von Anstrengung, ermattet, alltagszerschellt steigt man ins Naß, das einen sofort verändert; das kühle Element umfängt einen, Erleichterung verschaffend, Genuß bereitend, einen reinigend, erfrischend. Die Lebensgeister werden geweckt, man selbst klarer, ruhig. Die Vitalität kehrt zurück, neue Energie durchfließt einen; an Land trocknen die glänzenden, rinnenden Tropfen im Sonnenschein auf der Haut. Frei, glückselig, frohgemut schlüpft man in seine Kleider, aufgebaut, aufgerichtet. Nicht lange, und die Hitze treibt einen abermals in den Wahnsinn, krallen Pflichten, Zwänge, Gewohnheiten sich ins Fleisch, klammern sich fest, das Bad zur unbeständigen Erinnerung degradierend, es fortwischend, vergessen machend. Das Bad ein Wimpernschlag, eine Nichtigkeit, zu kurz, um bleibenden Wandel zu verursachen. Mein Bad, diese eine Begegnung, hieß Austin.  Es hätte nicht funktioniert, nie, zu unterschiedlich die Lebensumstände, Herkunft, Profession, Weltanschauungen, Vorstellungen, auch die Sprache als Barriere und meine Vergangenheit, die als Trümmerlandschaft im Weg steht, wohin ich mich wende. Aber eines wäre Austin mit Sicherheit gewesen: stark genug. Stark genug für mich.

Unterhalb des Flugzeugfensters breitete sich eine dunkelgraue Wolkensuppe aus, wir hatten mit dem Sinken begonnen, steuerten auf Kulussuk zu, als eine knackende, schlecht verständliche Lautsprecherdurchsage des Kapitäns verkündete, daß die Sicht zu schlecht sei und die Maschine abdrehen würde, wieder Island ansteuern. Murrende Ratlosigkeit ergriff den Passagierraum, der nur etwa dreißig Personen faßte. Die angespannte Stewardess fragte mich, ob dies unser erster Versuch sei, nach Kulussuk zu gelangen, was ich bejahte. Ein Strahlen huschte über ihr Gesicht. Ach, wie gut, na ja, andere probierten es sechs, sieben Mal – pro Tag hoben maximal zwei Maschinen ab nach Ostgrönland, stünden uns derart viele Fehlschläge bevor, würde sich das achttägige Trekking rasch erledigt haben… Um das sich anschließend abspielende Chaos zu verkürzen: es kam zu etlichen weiteren Flugstreichungen, zum einen des Orkans wegen, der wütete, zum anderen aufgrund fehlerhafter Propeller, was mir schlimmer wog, vermag ich nicht zu sagen, unfreiwillige Nächte in Reykjavík und Besichtigungen etlicher touristischer Attraktionen wurden erduldet, Lava Show, Maritimes Museum, Wal Museum, alter Hafen, Harpa Konzerthaus inklusive Kinofilmchen in 4D (wackelnde Stühle, wenn sich Erdbeben zeigten am Bildschirm, heiße Luftgebläse, wenn es visuell ins Erdinnere ging, etc.), der Hügel mit dem Häuschen voller Stockfisch, die Fußgängerzone mit der Regenbogenstraße, die brutalistische Kirche samt Turmbesteigung, eine Bootsfahrt hinaus aufs Meer zum Beobachten von Seevögeln und Buckelwalen, meine Güte, was hatten wir die Nase voll von Reykjavík! Man hätte sich fast ein Tattoo stechen lassen mögen vor Langeweile und Klischee…

Als meine Füße endlich grönländischen Boden betraten, waren es Schritte in eine Heimat. Wie ich es damals bereits im Westen empfunden hatte (vgl. Beiträge 9 und 10), entströmte diesem Flecken Erde eine uralte Ruhe, die mystisch und weise, unaufgeregt über allem liegt. Es war mir definitiv ein nicht aufzuwiegendes Privileg, vier, fünf volle Tage durch eine Natur zu schreiten, die nicht verdorben ist von menschlicher Bebauung, durch Funk- und Strommasten, Müll, Hinterlassenschaften. Es gab nichts, nichts!, als die schroff aufragenden Bergzacken, an den Spitzen schneebedeckt, nichts als Tümpel, Weiher, Pfützen, Gestein, dickste Polster aus Moos, Flechten, verzwergter Vegetation, teils bereits in Herbstfarben, nichts als Millionen schwarzblauer Krähenbeeren, schmatzenden, saugenden Untergrundes, in den man tief einsank, nichts als Klippen, Fjorde, schmale Meereszungen, pinke Weidenröschen, duftenden arktischen Thymian, heiter violette Glockenblumen, flauschige Wollgräser, nichts als treibende Eisberge, intensiven Sonnenschein, rauschende milchig-jadegrüne Flüsse, nichts als Gänse und Möwen und Eistaucher, ein paar Mücken, nichts nichts nichts anderes als unberührte Landschaft, ausgefegt, der Menschheit entledigt, nichts als das eigene Gehen und Sein, Aufsteigen, Absteigen, Hüpfen von Flechtenbuckel zu Flechtenbuckel, der sich unter dem eigenen Gewicht zusammendrückte wie ein stattlicher Schwamm, nichts als Matsch und Geröll, sanftes Geplauder in der Gruppe, Lachen, Unbeschwertheit, Miteinander, und Grönland war so umfassend pur und autark, unverletzt, daß man das Menschsein vergaß und verschmolz und endlich das werden durfte, was man im innersten Kern war: Natur.