30, Teil I: Darf ich Sie fragen…?
Kenia, Februar 2018.
Drei Tage nach der Rückreise. Ein Duft von Hyazinthen wogt durch den stillen Raum, der unverändert daliegt, frisch gestaltet mit Farbe, Kunstobjekten, Fundstücken, ein kleines privates Schatzkämmerchen an Interior Design. Draußen über dem Vormittag liegt eine kompakte Decke aus Schnee, weiß und dicht, irreal. Ein Bildband Englischer Traumgärten kündet vom Interesse an sommerlicher Pflanzenpracht wenige Wochen zuvor. Als sei die Zeit stehen geblieben, finde ich alles so vor, wie es gewesen war. Der haushohe Bambus kratzt im Wind sich biegend über das Fenster hinweg, sonst höre ich nur das konstante, elektrische Sirren des Laptops. Vom Geburtstag der Strauß aus warmen Narzissen und Tulpen bringt eine heitere, fast ketzerische Note in das durchdachte kühl-gediegene Farbkonzept des Zimmers; der kleine Spiegel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, oval in Boudoirmanier, wirkt tatsächlich modern. Zwischen den Betrachtungen, Gedanken, getippten Sätzen stütze ich die Hände aufs Kinn. Kaum zurückgekehrt, befällt einen dasselbe Karussell an Fragen, Zweifeln, Unsicherheiten, so als sei man nie fort gewesen. Ja. Soll das Reisen einen nicht verändern? Schüchtern streift die Wintersonne meinen Schreibtisch. Ich liebe den strömenden, charakteristischen Geruch der Hyazinthen, sauge ihn auf mit jedem Atemzug; hinein mischt sich das Aroma kenianischen Kaffees: nicht zu stark geröstet, mit Noten von Kakao, Karamell, Haselnuß, ungewohnt, fein. Die Wahrheit ist, jetzt kann ich es gestehen, daß ich auf Reisen stets suchend bin: nach der großen Liebe, dem Lebensplan, der Lösung aller Dinge, einer wie immer gearteten Erkenntnis, den Körper durchfahrender Emotion. Das reinigende Gewitter. Gleich vorab: ich habe es vermißt, mich zu bewegen, das Wandern, aber es ging ja nicht, des Rückens wegen, und so verbrachte ich die Zeit überwiegend hockend im Jeep, durchaus bis zu zwölf Stunden täglich. Durch den Rahmen eines Fensters sah ich die Natur, war abgeschnitten von ihr, der Geländewagen mein Sicherheitskäfig, der Nationalpark ein gigantischer Zoo. Die Wildnis erschloß sich mir nicht in Kenia, trotz der Herden an Nashörnern, der Giraffengruppen, der Löwenrudel. Ich war ein Tourist. Klick, klick. Satt tönte die Spiegelreflex. Klick, klick, klick, klick. Eine Gepardin mit vier Jungen. Klick. Oryxantilopen vor dem Panorama eines Sonnenuntergangs. Klick. „Was haben wir Glück!“ rief der Guide begeistert, als uns ein Leopard einige Sekunden musterte, ehe er gelangweilt davonschlenderte ins Schattengebüsch. Klick. Das waren Momente der Abwechslung, des Abhakens einer Liste. Das und das – gesehen. Dies und jenes – auch. Gut, weiter. Es waren nicht meine Momente.
Meine Momente: nach einem schmackhaften Abendessen voll lauer Konversation über Themen, die mich nicht umtreiben, leicht betrunken vom Weißwein über das gepflegte, üppig bepflanzte, doch spärlich beleuchtete Gelände der Lodge schlendern, über sich ein Himmel aus blinkenden Sternenblasen, in der Luft ein Zirpen laut und fremd und herrlich, zum Bungalow Tappen, kurz Stehenbleiben; dann Lächeln mit Tränen in den Augen und weiter. Oder den Pool am Hang ganz für sich alleine haben, das kalte Wasser den Körper umfangen fühlen, dem Plätschern lauschen, das die ausgreifenden Schwimmzüge erzeugen. Und ein Blick bis in die Unendlichkeit, hinab ins lohfarbene Tal voller Savannen, Akazien, trockener Felder, über den Solio Nationalpark hinweg bis hinüber zu den fünftausemd Metern Mount Kenya. Am Poolrand ein beeindruckender Kandelaberkaktus sowie drei zierlich tippelnde Bachstelzen, die ebenfalls Gelegenheit ergreifen, sich am Wasser zu erfrischen. Sie fürchten mich nicht. Ich bin eine Königin. Frei.
Oder im Samburu Park, abends am Restaurant, als im Halbdunkel der Nacht ein bezauberndes Aquarell aus Tupfen lag, eine zarte, wunderschöne Ginsterkatze. Wie europäische Füchse suchen sie die Nähe menschlicher Zivilisation, um Futter abzustauben, gezuckerte, pappige, kartonartige Brötchenkrumen etwa. Ein Mann mittleren Alters, Franzose, mit einem mächtigen Objektiv zur Hand, versuchte zäh wie unnachgiebig, sein perfektes Ginsterkatzenportrait zu schießen. Er legte sich dazu auf den Bauch am Boden, warf wiederholt Semmelbrösel, nahm Einstellungen vor an seiner Kamera (respektvollerweise ohne Blitz) und knipste und knipste, ohne dem Tier wirklich nah zu kommen. Aus Erfahrung, ganz zwanglos, vermutete ich etwas. So setzte ich mich einfach hin und rief die Ginsterkatze. Ohne jedes Zögern gesellte sie sich zu mir. Ich redete sie an, auf Deutsch, lobte ihre Schönheit, fragte nach ihrer Befindlichkeit, nannte sie gurrend „Mäuschen“ (weil ich alle Tiere so bezeichne…), den anderen der Gruppe war es anfänglich ziemlich peinlich. Aber die Ginsterkatze wagte sich weiter zu mir heran, blickte mir ins Gesicht – ihre Augen so herrlich, unbeschreiblich!! Die kleinen Öhrchen drehte sie bei meinen Worten mal hierhin, mal dorthin. Ein plumper, älterer Engländer freute sich über das zutrauliche Geschöpf, polterte mit seiner Canon heran, Zack! War es lautlos blitzschnell hinweggehuscht. Enttäuscht dampfte der Engländer ab, es dauerte kurze Zeit, da war sie wieder bei mir, meine süße Katzenfreundin. Die Szene mit dem Engländer wiederholte sich sage und schreibe noch drei Mal. Der Franzose hingegen begriff recht rasch, daß er nicht würde näher an sie herangelangen; ich befürchte, ich bin auf einigen seiner Bilder mit drauf, pfffff, und wenn…
Als ich aufstand, um mich zur Essenstafel zu begeben, bat mich diskret einer der afrikanischen Kellner zu sich.
„May I ask You,“ meinte er schüchtern mit blitzenden Augen, „What did You tell? – I´ve never seen something like this before…“