297, Teil VI: Plaudereien

297, Teil VI: Plaudereien

Südkorea, März 2025.

Es gibt da ein Gefühl, das mich von klein auf begleitet; manchmal drückt es sich heftig aus, indem es riesige innere Spannungen erzeugt, so als drückten zwei architektonische Platten aufeinander, die sich unbedingt entladen müssen. Oder aber es zieht wie herbstlicher Bodennebel heran, leise schleichend, in jede Ritze vordringend. Es ist die Empfindung, sich nicht zu mögen. Fehler zu begehen, falsch zu sein, nichts zu erreichen als Banales oder gar Negatives. Nicht nur nicht zu genügen, sondern nicht gut zu sein, kein guter Mensch, nicht höflich, respektvoll, wohlwollend, liebend, tatkräftig, bescheiden, mutig, unterstützend, empathisch, dankbar, zärtlich, gelassen, wirksam. Wenn ich durch die Natur streife, eine Ausstellung besuche oder reise, so fehlt diese Emotion meist oder wird zumindest leichter zu ertragen. Ist es, weil ich in jenen Situationen tatsächlich besser bin, oder liegt es daran, daß mich in der Regel keine anderen real anwesenden Personen umgeben (bei Gruppentouren, aus organisatorischer Bequemlichkeit gebucht oder weil man von einem Guide lernen möchte, separiere ich mich so weit als möglich)? Und kennt das eigentlich noch jemand?

Wir wurden in eine Präsenzbibliothek geführt, die mitten in einem kommerziellen Einkaufscenter angelegt worden ist. Im Herzen des Gebäudekomplexes öffnete sie sich wie ein überdachter Patio, über den gewagte Glas-Stahlkonstruktionen in steilen Winkeln und Überschneidungen hervorragten, an die britische Ingenieurskunst des 19. Jahrhunderts, an die gigantischen viktorianischen Gewächshäuser erinnernd, eine Neuinterpretation dessen. Licht und Luft fluteten angenehm, trotz der Raumfülle entstand einladende Behaglichkeit. Die Regale waren geschickt in halborganische Verschalungen integriert, die zugleich Abteile und Nischen bildeten, in die man sich zurückziehen konnte. Sitzbänke gab es, Stühle, Tische, Grünpflanzen. Erstaunlich viele Leute fanden sich dort ein, schmökernd, blätternd, lesend, tippend an Notebooks. Andere dösten oder unterhielten sich dezent; auch wurde viel fotografiert, die Atmosphäre war berückend, die Struktur interessant. Auf einer Empore, zu der uns eine Rolltreppe, ebenfalls flankiert von Büchern, brachte, entdeckte ich ein Mädchen, das offensichtlich Geld verdiente als Hundesitter, denn in einem Wägelchen (in Asien ist es übrigens üblich, kleine Schoßhunde in polyestertextilen Bollerwagen zu kutschieren) hockten geduldig, brav und wahrlich zufrieden gleich mehrere kugelige Wollbäusche, dicht gedrängt, und eines noch hatte sie auf den Knieen. Sie erregte allgemeine Aufmerksamkeit, während sie gleichmütig vor sich hinstierte, offensichtlich die Zeit totschlagend, müßig-gelangweilt, fast ergeben. Die Leute schmunzelten über das drollige Bild, das sie abgaben, das Mädchen und die fünf Teddyhündchen, sie wurde ständig geknipst. Auch ich wollte dies tun, aber ich fragte sie vorab mit Gesten. Sie stimmte zu, ohne daß mehr Leben in sie geriete, wahrscheinlich war sie es gewohnt. Es war also nichts weiter als ein plumpes Einkaufszentrum im berühmten Gangnam-Viertel Seouls und ich erst enttäuscht gewesen, daß wir damit eine Stunde verplempern sollten, doch ein Schritt in diese Präsenzbibliothek und ich begriff den Zauber, der von ihr ausging! Man wurde friedlich dort. Leider lagen ausschließlich koreanische Werke aus; wie besonders dieser Ort nun war, konnte ich allerdings erst am Flughafen viel später ermessen, wo ich verzweifelt die Gates abrannte auf der Suche nach einer englischen Lektüre, sei es Zeitschrift, sei es Roman, denn ich hatte keinen Lesestoff mehr und einen 12stündigen Flug vor mir, was mich – die ich keine digitalen Medien verwende – leicht in Panik versetzte. Ich eilte und hetzte und konnte es kaum fassen, denn Fressalien und unnützen Luxus der unerschwinglichen Marken Chanel, Cartier, Rolex und Co., die reihten sich im Überfluss Boutique an Boutique, aber Printmedien (und wären es koreanische Modemagazine gewesen!), die fehlten völlig. Nach bald siebzig Minuten dann erspähte ich einen winzigen Kiosk mit Büchern, darunter etwa ein dutzend englische. Ich holte mir erleichtert einen aus dem Koreanischen übersetzten Krimi (ich lese sonst nie Krimis oder Thriller)…

Auf dem Fischmarkt in Busan wurde Ware feilgeboten, die nicht nur noch lebte, sondern von der ich gar nicht wußte, worum es sich eigentlich handelte dabei. Nie werde ich diese rhythmisch pulsierenden fleischig rosa Dinger vergessen, aufgeschichtet in Körben, groß und dick wie Gemüsegurken, die vermutlich Meereswürmer waren… In Trögen schwammen Fische jeder Form und Größe, in Aquarien tummelten sich Seesterne und -igel. Sepien versuchten noch, zu entkommen, Kraken wanden sich, wenn sie in Tüten geschlagen wurden. Dieser Markt war riesig, fast ein eigenes Dorf, überdachte Hallen, sich im Freien dahinziehende „Gassen“ aus Ständen mit allerlei Ozeangetier, auch getrocknet zuweilen, frittiert, das meiste aber fangfrisch und eben oft vital – vitaler als mir lieb war, es ekelte mich wie die anderen, wobei ich die einzige Vegetarierin war… Trotzdem möchte ich das nicht beurteilen, verurteilen, ich entstamme eben einem Kulturkreis, dem das höchst suspekt anmutet, was Einheimischen als lokale Delikatesse gilt. Interessant war es allemal!

Soweit möglich suchten wir das Grenzgebiet zu Nordkorea auf, das ich mir als unberührte Natur und eingewachsene Wildnis vorgestellt hatte, aber hier war es noch brauner, karger, öder, trister als im restlichen Winterkorea, ein Schock! Es war gleich unser erster Programmpunkt nach der anstrengenden langen Anreise aus Deutschland am Vortag, und wir erblickten wüste, ausgedörrte Leere, jede ferne Kontur in totalem Dunst verschwunden. Nordkorea blieb uns ein Mythos, ein blinder Fleck. Einen der illegal gegrabenen Tunnel, manche davon über hundert Kilometer lang!, konnte man ein Stück weit abgehen. Angeblich sei Nordkorea in der Lage, mithilfe solcher (wenn noch geheimer, unentdeckter) unterirdischen Routen binnen einer Stunde mit 20.000 Mann in Seoul einzumarschieren… In steiler Neigung stieg man unter die Erde, eine breite Rampe, die sich verjüngte. Meinen 160 Zentimetern machte der mit Lesesteinen gestützte, enge und niedrige Gang nichts aus, er war ja als „Museum“ sachgemäß befestigt und mit Lampen versehen worden. Mich irritierte anderes, das ich erst nicht zu benennen vermochte, bis es klick! machte bei mir, denn an die Wände krallte sich saftiges, frisches, leuchtend grünes Moos. Am Ende des zugänglichen Abschnittes gediehen gar kräftige, hohe Farne. Ob die Decke gebrochen sei, eine Öffnung habe, fragte ich unseren Guide. Nein, natürlich nicht, lautete die Antwort, etwas verdutzt. Südkorea hat in den einstigen Angriffstunneln des „nördlichen Feindes“ Tageslichtlampen anbringen lassen, sonst hätten die Pflanzen in x Metern Tiefe keine Überlebenschance – ich fand das skuril irgendwie…

Es sind Nichtigkeiten, ja. Nichtigkeiten, die ich schildere, Nichtigkeiten, die mich umgetrieben haben im fernen Land. Immerhin sind es meine Nichtigkeiten!

Polizeibusse in der gesamten Stadt, bewaffnete Einsatzkräfte, Absperrungen; Protestaufläufe, Versammlungen, wütendes Skandieren. Demonstrationsplakate, erliegender Nahverkehr. Es ist unruhig in Seoul, die Bevölkerung brodelt, es wird ein Gerichtsurteil über einen unliebsamen Politiker erwartet, Staatsoberhaupt. Ich höre das Geschrei bis ins Hotelzimmer hinein im fünfzehnten Stock.

Manchmal, wenn ich mein Haar, zu diesem Zeitpunkt sehr lang und kirschrot mit Henna getönt, offen trug, wurde ich zum Zentrum der Aufmerksamkeit. Man fotografierte mich verstohlen mit dem Handy, redete gestikulierend, lächelnd nickend auf mich ein; daß es so schön sei, mein Haar, übersetzte der Guide, mich beschämend. Entgegen der Überzeugung der meisten anderen stehe ich nicht gern im Mittelpunkt. Ich kleide, frisiere, schminke mich nicht mit dem Ziel, unbedingt aufzufallen, sondern um mich auszudrücken – mir selbst gegenüber. Unangenehm berührt ließ ich die gedolmetschten Lobesschwälle über mich ergehen, rasch das Haar wieder aufbindend hernach (da es regelmäßig regnerisch war, ließ ich es ungeflochten trocknen). Am meisten erstaunte mich, in Korea gesehen zu werden, war ich in Deutschland doch das Fantom.

Man hatte einen schmuddeligen, vermüllten innerstädtischen Fluß aufgewertet ein paar Jahre zuvor, ihn gereinigt, Uferbefestigungen aufgezogen, die zum Flanieren einladen, für nächtliche bunte Beleuchtung gesorgt. Fische schwammen im flachen Wasser, herrlich trällernde Vögel tummelten sich in den gepflanzten Bäumen. Brückenunterführungen waren mit heiteren, bunten Bildgraffitti besprüht. Ein Brautpaar ließ sich dort professionell shooten, sie blutjung, gertenschlank, ein Minikleid tragend, das knapp über den Po reichte, dessen Schleppe aber Meter über den Boden schleifte, dazu Overknees mit Plateauabsatz, alles in Weiß, was sonst. Ältere Menschen, siebzig plus, stoben an mir vorbei; jawohl, mit weit ausgreifenden Schritten frönten sie dem populären Nordic Walking, die Haltung gerade, die Körper zierlich, die Damen alle mit Dauerwelle, pechschwarz gefärbt, die Lippen leuchtend knallig nachgezogen. Sie preschten energisch voran, die westliche Wert, ihre Ernährungs- und Lebensweise, diskreditierend. Wow, so möchte ich altern!! Bei uns behaupten die Leute ja schon in ihren Vierzigern, die Verschleißerscheinungen, die ihnen zu schaffen machten, seien naturbedingt und eben zu akzeptieren. Na, reist mal nach Korea! (oder Japan, oder…) Ich jedenfalls wollte mir das zum Vorbild nehmen, beweglich bleiben in Körper und Kopf, soweit man es in der Macht hat.

Ja. Im Großen und Ganzen war es das, meine Tour. Bist du gelangweilt? Hast du mehr erwartet?