295, Teil IV: Fische bei Schnee

Südkorea, März 2025.
Die breite Promenade lag verlassen da – was Wunder!, es düsterte bereits vormittags, kalter Wind klatschte uns um die Ohren, das Meer rollte trist und anthraziten, Schnee – jawohl, Schnee!, flockte wirbelnd herab. Die Kioske und Toilettenhäuschen, die Lokale und Buden waren verriegelt. Nur unsere kleine Gruppe stapfte den Strand entlang, jeder in seine Gedanken vertieft. Ich war eigentlich einfach froh über diesen Spaziergang – was soll das für ein Leben sein, Schlafen, Aufstehen, Frühstücken, Sitzen?? Folter pur… Die Leute versitzen ihre Biografie, hocken in Cafés und Bars, Restaurants, Bürostühlen, Loungern, auf Massageliegen, in PKW und Bussen, auf Terrassen, Zimmern, Betten, Gott wie schrecklich! Entschuldigung, das sind dann genau jene Menschen, die von Neid zerfressen werden, wenn sie von meinen Touren erfahren (weshalb ich diese inzwischen verschweige). Oft geschieht es, daß eine bestimmte Reportage im Fernsehen läuft und ich sagen kann: „Hey, da war ich schon!“ und es den anderen beweise, indem ich prophezeie: „Da hinter der nächsten Biegung liegt das und das“ und kurz darauf zeigt die Kamera es. Ich erwähne es nicht aus Arroganz oder Angeberei, genausowenig bezieht es sich rein auf exotische, teure Ziele. Kürzlich kam ein Bericht über eine Hobby- Alpaka- Haltung im nahe gelegenen Fuchstal bei Landsberg am Lech, wo man Spaziergänge mit den possierlichen Tieren anbietet, welchen solchen ich einmal meiner Freundin zu Weihnachten geschenkt hatte, also einen Gutschein für einen gemeinsamen Ausflug dorthin; ich weiß noch, wie schön die Nelken blühten und die Heupferdchen und Zikaden in den Gräsern sangen, wie brav „unser“ Alpaka war, wie schmuseweich und knautschsüß, daß die Sonne herrlich vom Himmel lachte an diesem Frühlingstag und daß die Welt in Ordnung war und ich diese eine Freundin hatte, und jedenfalls wußte ich vorab die kühl-feuchte Schattenschlucht zu schildern und die anderen sagten: wo du überall schon warst und ich dachte mir: ja, das kommt daher, weil ich nicht in eurer winzig kleinen Welt leben will. Eine Binsenweisheit, daß man nicht so viel mitkriegt, wenn man beim Wellnessen den Rücken geknetet bekommt, auf der Städtereise in Venedig am Pool Cocktails nuckelt (weil man ja ausgerechnet in Venedig seine Zeit im Hotel verbringt!!) oder von einem Restaurant zum nächsten wandelt. Es könne mir egal sein, was solle diese Tirade, höre ich es aus dem Off, aber mich betrifft das sehr wohl, wenn die dumpfe Instagrammasse durch Posiererei und Narzissmus die prächtigsten Plätze blockiert, ohne sich für diese, für ihre Geschichte, Kultur, Bewohner, Natur zu interessieren oder die Daheimgebliebenen halb geifernd fragen, was man so erlebt habe unterwegs (worauf ich bestimmt nicht antworte: Stell dir vor, in meiner unmittelbaren Gegenwart hat vielleicht ein wilder Tiger gelauert…). Um ehrlich zu sein widert mich dieses ganze Gebaren derart an, daß ich mit größter Wahrscheinlichkeit das Reisen einstelle, da ich kein Teil einer unsäglich grotesken, schädlichen Alltagsflucht und schalen Prahlerei sein möchte. Der Gipfel dieser Absurdität war erreicht, als ich erzählt bekam, eine Familie lasse die Beerdigung der Mutter des Vaters um gleich mehrere Wochen verschieben, damit der geplante Campingurlaub angetreten werden könne. Diese Form von Egoismus und Freizeitsucht ist solchermaßen komplett abartig, daß sie nach meinen Begriffen pervers ist. Wie rücksichtslos nicht von dieser schwer kranken, seit Jahren grausam leidenden Frau Mitte sechzig, einfach kurz vor der Campingplatztour zu versterben! Wo Campen doch so teuer und exquisit und begehrt geworden ist und man ordentlich sparen mußte dafür und die anderen vorab schon grün gemacht worden sind durch Aufzählung dessen, was man dort alles unternehmen werde, feinstes Rindfleisch grillen, Tretboot fahren, karteln, radeln, eine geile Sommerzeit haben, alles total instagrammable natürlich… Ok, jetzt bin ich herablassend, aber als meine Schwester vor sechzehn Jahren verstorben ist, habe ich die nächst mögliche Maschine heimgenommen und bin nicht noch wie geplant einen Monat länger durch Südamerika gereist. Nicht den Bruchteil einer Sekunde wäre ich auch nur dieser Idee verfallen!
Die Promenade lief an einem Steilstück der Küste aus; hier hatte man Treppen und Bohlenstege gebaut (in Südkorea steht man auf hölzerne Befestigungen!), die in der Höhe um die Felsen herumführten, ungefährlich freilich, was sonst, gesichert. Ich roch das Salz, fühlte die Gischt auf dem Gesicht. Die Arme hatte ich fest um mich geschlungen, die Kapuze weit in die Stirn gezogen, es war ungemütlich kalt. Schnee und Meeresbrise, diese Kombination hatte ich noch nicht oft kennengelernt, vielleicht nie bisher? Unter mir, umspült von spielenden Wellen, ragte ein amorph-eckiger Steinklotz empor; wenn das Wasser gegen ihn geschlagen, über ihm zusammengefallen war und sich wieder zurückzog, quoll aus einer versteckten langen Ritze der weiße Schaum, trudelnd, cremig. Ich hätte Stunden zuschauen können, Minuten waren mir gegönnt. Es hatte etwas sehr sinnliches, unter Zen Aspekten betrachtet. Man wurde ruhig darüber.
Wir hielten erneut an einem Strand; dieser war winzig, gebogen, zwischen Buchten versteckt, von der Straße aus gar nicht wahrnehmbar; man mußte sogar ein wenig ansteigen auf Asphalt, an blühenden Zwergkirschen vorbei, in denen Staren ähnliche Vögel nach Insekten haschten, und über Stufen wieder hinab, an einem Tempel vorbei (inzwischen hatte ich so viele Tempel besichtigt, daß ich ein wenig abgestumpft war); Regenwolkengebilde saßen über dem Ozean fest, nicht platzend, nur der Wind, der pfiff weiterhin. Irgendwie war es ausgerechnet dieses kleine Fleckchen Sand, daß ich mich wirklich am Meer fühlte, am Meeressaum angelangt. Möwen schrieen durch die Luft, ich kuckte nach Delfinen, die es freilich nicht gab, auch keine Schiffe. Hintennach, man schlenderte kaum fünfzig niedliche Meter Krümmung, erhob sich ein Felsenhügel, glatt geschliffen von der Witterung und Menschenfüßen. Ein metallenes Tor schirmte ein Gebäude ab, was mich neugierig stimmte. Dort befanden sich, oh wirklich!, mehrere Aquarienbecken, in denen junge graue Fische schwammen, gemächlich, die meisten standen gar. Eine Frau mit Kescher eilte mir strahlend entgegen; unser Guide erläuterte: gegen eine Spende könne man einen der Fische freikaufen und unten im Meer entlassen. Es mutete ein wenig makaber an, da eine ganze Reihe Möwen geduldig halbkreisförmig harrend auf die leichte Beute warteten. Trotzdem wollte ich gerade einen Geldschein zücken, denn einen Fisch freikaufen, um ihn auszusetzen und eine neue Chance zu geben, das hatte ich nie zuvor getan, da ätzte einer der Mitreisenden: „Ja, klasse! Ich bezahl doch keinen Fisch, den ich nicht essen und nicht besitzen kann, nur damit die ihn gleich wieder fangen und zurück ins Becken werfen!“ Ich zögerte. Buddhistische Mönche erschaffen wunderbare Mandalas aus farbigem Sand oder getrockneten Blüten, verwenden viel Sorgfalt und Hingabe darauf, um ihr hübsches Werk sofort im Anschluß wieder zu verwischen; es ist eine spirituelle Übung, eine Kontemplation, ein Gebet der Tat, Gottesgespräch, nicht gedacht für Dauer oder Zweck. Ich habe vergessen, ob die Leute die Fische freilassen, weil ihnen dann Gesundheit winkt, Glück oder Geldsegen, daraus machte ich mir nichts. Ich jedenfalls hatte es tun wollen, weil ich mir selbst hernach etwas zu erzählen gehabt hätte – was hätte ich gefühlt? Gedacht? Welche Bilder, Geräusche hätten sich mir geschenkt? Aber die selbstüberzeugte Lästerei hatte ihr Gift versprüht und jede Poesie oder spirituell-meditative Regung vernichtet. Ich wollte die „Freizeit“ abwarten, wenn die Führung durch unseren Guide vorüber wäre, und dann zurückkehren, allein, im Schutz der Ruhe, mir meinen Fisch aussuchend, hoffend, daß er schlau genug sein würde, die Möwen auszutricksen und weit, weit hinausschwimmen in ein freies Leben… Ich drückte die Klinke des Metalltores, sie gab nicht nach. Geöffnet bis 17 Uhr, las ich auf einem unscheinbaren Schild. Ich spähte auf mein Handgelenk, wir hatten fünf nach. Ich fluchte! Sprach Verwünschungen aus gegen den Mitreisenden, nur um mich zu korrigieren, mich selbst zu schelten. Was ließ ich andere immer in meine Sachen pfuschen! Wie konnte ich jemanden ernst nehmen, der in Versace-Jeans und mit YSL-Sonnenbrille und einfachen Sneakern (eher Tennisschühchen im Eighties-Stil) Wanderungen in die Berge Koreas unternahm, hechelnd trotz Muckipaketen?? – Nein, auch das war unfair. Er war kein schlechter Kerl, etwas eigen, aber eigen mag ich ja; ich hatte ihm bloß zu viel Einfluß gestattet, wie es mir häufig widerfährt, ich lasse zu, daß die Menschen mit ihren Meinungen und Ansichten in mich hineinschleichen, daß sie mir im Kopf herumspuken und dort wirken. Ich hätte lachen sollen, die Frau mit dem Kescher bezahlen und mir meinen Fisch nehmen, grau und jung, stehend im Aquarium, wartend. Ihre Gefangenschaft erinnerte an mich selbst. Spielerisch hätte ich ein Stück meiner gefesselten Seele freimachen können und habe es unterlassen, weil ein anderer – ein Fremder, dem ich würde nicht wieder begegnen – kein Verständnis gehabt hätte dafür. Doch, er war ja eigentlich nett, wir unterhielten uns gut. Er hatte mich eben auf dem falschen Fuß erwischt. Meine Schwester war besessen gewesen von Aquarien; einer ihrer Welse ist dreiunddreißig Jahre alt geworden und hatte sie damit um über eine Dekade überlebt.
Ich verbrachte die Freizeit dann reglos stehend auf dem schweren Sand der kleinen gekrümmten Bucht, den Salzwind spürend auf der Haut, in der Lunge, im Herzen. Die Wolken schwollen höher und höher, als seien sie ein Stück Land im Himmel. Es war ein ganz wunderbarer Ort von fließender Energie, die einen leicht machte und etwas befreiendes besaß. Hier, nur hier in Korea, gab es einen Tempel, in dem man Fische freikaufen konnte, und ich wußte, weshalb. Die Freiheit hing wie ein Gazeschleier aufgepinnt zwischen den Enden des Strandes. Gelassen stimmte sie, einen milde weitend; man öffnete sich der totalen Zufriedenheit und der inneren Ruhe.
Aufgrund der schlechten Witterung hatte ich die Kamera am „Fische-Tempel“ sowie während des Strandspazierganges im Bus gelassen. Um die Atmosphäre am schneienden Meer wiederzugeben, habe ich für diesen Beitrag eine Kirschenallee bei Schneefall als Illustration gewählt, ebenfalls aufgenommen auf dieser Südkoreareise.
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