292, Teil I: Zerwürfnis

292, Teil I: Zerwürfnis

Südkorea, März 2025.

 

Es war noch Winter, ein von Trockenheit und Dürre geplagter. Abseits der Städte fuhr man an einsamen, dicht bewaldeten Bergen vorüber, Kette an Kette, durchschnitten von Flußtälern – ein ächzendes, kahles Braun, Beige, Ocker ohne jedes Zeichen vitalen Lebens, abgesehen von alten Samenständen und halb eingezogenen Stauden und schrumpeligen Ranken, die von Fülle, Üppigkeit, überbordender Blüte kündeten – irgendwann später im Jahr, unerreichbar für mich, die ich aus dem Busfenster stierte, die Landschaft als monoton und trostlos empfindend, gepaart mit den wenig ansprechenden Betonortschaften sogar als beinahe unerträglich. Mir saß der deutsche Winter stark in den Knochen, ich litt, was ich nicht wußte, an akutem, extrem ausgeprägten Vitamin D Mangel, der meine Perspektive müde-verstimmt verzerrte. Am Abflugtag noch, während einer letzten Yoga Einheit auf der Schaffellmatte, hatte ich Rotz und Wasser geheult, weil ich nicht los wollte, nicht eingesperrt sein dreizehn Stunden lang in einer Maschine, mein Hundchen verlassend, mein Ein und Alles. Das Reisen war mir abhandengekommen, verloren gegangen, irgendwo, irgendwann während der Coronasupressionen und Gesellschaftsumwälzungen. Zudem holzten sie bei mir in Wald und Dorf und Umland kaputt, was nur unter die Sägen kam, die Buche von 200 Jahren, mein Ahorn und Eichen beschützter Platz am Bach, und wenn mir jemand begegnete beim Gassi oder Einkaufen, der nicht die Straßenseite wechselte, weil er mich nicht ausstehen kann, dann erzählte man mir – unbekannten Namens wohlgemerkt – von Durchfällen und Magen-Darm-Spiegelungen, von Trump´scher/Putin´scher Politik (weil sie davon so viel Ahnung haben nach differenzierter Quellenlektüre) und vom Wetter, das immer, egal welcher Art, grundsätzlich schlecht ist und mit dem Klimawandel korreliert. Ich startete nach Korea also voll empfundener Mißstände, nur um zunächst kaum mehr als Häßlichlichkeit zu sehen; ein Sprichwort nennt es vom Regen in die Traufe geraten. Ich war wütend auf mich, gebucht zu haben, mir das eingebrockt. Ich war unzufrieden, von Grund auf, durch und durch ungut, zerworfen mit mir und der Welt.

Und dann fiel auch noch Schnee, entgegen der Vorhersage, die einen Sonne-Wolken-Mix bei milden 15 Grad proklamiert hatte und ich mich darauf verlassen und zu wenig wärmende Kleidung mitgenommen. Ich fror.

Es fiel Schnee, als der Bus uns zum nächsten Tempel kutschierte, gewundene Straßen entlang, flankiert nur von unbewohnten Hängen, Baum bestanden. Dicke Flocken wirbelten hinab, das Erdreich mit dem fahlen, rötlich-maron farbenen alten Laub zudeckend, sich seitlich über die Stämme hauchend, auf fein verzweigten Ästen liegen bleibend, ein endloses Panorama aus Weiß. Plötzlich erkannte man das wahre Gesicht dieser Wälder, wie sie erscheinen würden, wenn sie satt und fett grünten, denn der Schnee formte eine Art visuelles Kronendach, täuschte Gräser und Vegetation vor, als befinde man sich auf einem anderen Planeten, der anstatt Chlorophyll weiße Gewächse hervorbrachte. Als die dicken Wolken ausgewedelt waren und zartes Sonnenlicht hinabperlte, tauchten Leuchtstreifen auf, die alles konturierten wie in einer Zeichnung, man hätte die Silhouetten ausschneiden mögen mit einer Schere, als sei meine Umwelt vor dem Busfenster eine papierne. Später, bei einem kurzen Spaziergang, zu kurz, fing sich die Sonne berstend in lodernden Ähren gebeugten Schilfes, stille Wimpel der Schönheit über einem glucksenden Bach, der an Schneeufern vorübertänzelte. Es war dies dann der Moment, an dem ich es krachen hörte, ein Riß – englisch wesentlich treffender: Crack – in meinem Steininneren. Vielleicht war es doch ganz nützlich, das Reisen.

Der Tempel stand Touristen offen. Eine außergewöhnliche Erfahrung versprach man uns, die wirkenden Wunder des Verzichtes, der Komfortlosigkeit, der spirituellen Selbst-Auseinandersetzung im Rahmen eines Temple Stays. Der frisch renovierte Raum maß gewiß 15, eher 20 Quadratmeter, ein heller Laminat kleidete ihn aus, die Wände waren makellos getüncht. Ein Badezimmer ging davon ab: Dusche, WC, der Boden Schiefer gefliest, alles sauber und wie neu. Im Zimmer, das ich mit niemandem zu teilen hatte, warteten auf einem niedrigen Holzregal ein Bildband, ein Wasserkocher und Pulverkaffee sowie Teebeutel auf Gebrauch, ein herzliches Willkommen. Schließlich fand ich in einer Abstellkammer eine dicke faltbare Matratzenunterlage, bauchige Kissen und mehrere Decken für die Nacht später, gepflegt und duftend. In diesem geputzten, hergerichteten Zimmer also harrte ich ratlos aus: worin bestand der Verzicht? Was gab es denn fantastischeres als Ordnung, behagliche (anstatt steriler) Leere, Privatbad und eine Gelegenheit zum Kaffee brühen?? Ich hatte geglaubt, in einem Schlafsaal untergebracht zu sein, mir mit dutzenden Damen ein Bad zu teilen, hatte mich auf Schimmel eingestellt, Ungeziefer, Ratten, Moder, eisige Kälte (ach so: Fußbodenheizung gab es auch noch…), auf Gestank und Streß (alles bereits vorgekommen auf Reisen, und zwar nicht zu knapp), nur um in einem minimalistischen Paradies zu landen? Paradoxerweise verspürte ich leichte Enttäuschung über all die Annehmlichkeiten, während die anderen Gruppenmitglieder über „das Schlafen auf dem Boden“ jammerten (die haben noch nie auf dem Boden geschlafen, dann wüßten sie nämlich, was das ist), über die fehlenden Möbel (wofür einen Tisch? Einen Stuhl, Schrank?) und über die Kleiderordnung: ob Mann oder Frau, wir hatten gestellte Textilien zu tragen in Schlammbraun (schon wieder Braun!), weit geschnitten, Zweiteiler aus geknöpfter Hemdjacke und Pluderhosen, baumwollen, gebügelt. Wenigstens das frühe Aufstehen würde mir zu schaffen machen, vermutete ich, die Glocke würde ab 4.30 Uhr geschlagen, das hieße für mich, den Wecker um halb vier morgens zu stellen (Make Up und eine sitzende Frisur sind immer angesagt, ob Wüstentrekking oder buddhistischer Zen, das ist meine Routine, meine Kriegsbemalung, mein Schamanenzauber, Schutzschild gegen das Da-Draußen, Würde-Signal und Feminismus-Trotz).

Blaugraue Luft waberte durch die Anlage. Wir hatten uns versammelt, um in Zweierreihen am Nachtquartier und den hölzernen Tempelgebäuden vorbei zum Herzen des Klosters zu schreiten, die Schritte ein Flüstern in der heiligen Stille, die kein Wort zerschnitt. Müde war ich nicht seltsamerweise, die Kühle tat das ihrige, Atemwölkchen stoben aus, Drachenhauch. Unter einer erhöhten Überdachung an Holzgestellen und Seilen hingen gigantische Gongs und Glocken und aufgespannte Trommeln. Mönche in Kutten, geschlungene Roben in etlichen Schichten, huschten unspektakulär heran, mich verblüffte ihre Jugend und daß sie hochmoderne Sneakers trugen, Adidas, Nike…, auf den kahl rasierten Schädeln Pudelmützen, ein Widerspruch zum alt-erhabenen Klischee in meinem Kopf. Eine Performance der besonderen Art nahm ohne jede Einleitung ihren Anfang: zwei filzbezogene Klöppel in den Ausmaßen eines imposanten Hammers trommelten auf den Gong ein, wobei die Arme des Spielenden völlig unabhängig arbeiteten, der eine in schnellem, heftigen Stakkato, der andere eher wischend in kreisförmigen Bewegungen. Sanftheit und Kraft wechselten ab, jagten sich wie Hasen im Frühjahr, ein bewundernswerter Akt der Koordination, Konzentration, Beherrschung und Ausdauer. Nach langen Minuten, zehn vielleicht, wurde die Glocke geschlagen, sie sind in Korea so riesig, mächtig und bronzen-schwer, daß man dafür einen Rammbock benötigt. Meine Schilderungen klingen sehr rational, analytisch, mechanisch und spiegeln die äußeren Fakten wieder. Was aber mit dem ersten Schlag geschah, geht weit darüber hinaus. Ein Beben ergriff mich, die Vibrationswelle des Schalls durchdrang meine Haut, pulsierte im Blut, machte die Eingeweide wackeln. Durch Mark und Bein gehen, sagt man, und das trifft hier zu, aber es geschah hier auf eine angenehme Weise, es tat wohl. Es brachte das Innere ins Rutschen, rüttelte es auf, die steinernen Klumpen zerbröselten irgendwie, wurden geschmeidig und weich. Etwas stieg auf in mir, sich über die Stirn, nein: den Scheitel lösend. Als habe ein gefesselter Vogel, ein Riese von Vogel, Adler, Phönix, seine Flügel ausbreiten können und auffliegen. Es war ein Gefühl der Entbundenheit, der Befreiung, nichts Brutales, gar nicht, aber etwas Mächtiges. Ich spürte mich lächeln, ganz zart nur, spürte mich: aufatmen.

Danach scheuchte man uns fast zur Halle des Morgengebetes, wo wir auf Matten knieten und begleitet von den Spruchgesängen und Klanghölzern der Klosterbewohner einhundertacht Kügelchen auf eine Kette fädelten, uns je danach einmal verbeugend. Ich tat es bloß mit Oberkörper und gefalteten Händen, die „richtige“ Variante mit Aufstehen, Niederknien, Ablegen, Aufrichten etc. wäre mir für mich geheuchelt vorgekommen, meinem christlichen Hintergrund zu fremd (als Muslim wäre es mir vertrauter gewesen, stimmiger). Als wir schließlich frühstückten vom veganen Buffet voll gekochter Blattgemüse, Wurzeln (auch Lotus), Algen, eingelegter Rettiche, gewöhnungsbedürftig deftig gewürzter Soßen etc., ging es auf halb sieben zu – morgens, immer noch… Man gestattete uns Freizeit bis elf Uhr. Der Tempel lag umgeben von Bergen mit wunderbar ausgebauten Pfaden. Wie sie mich riefen, diese Berge, Pferdchen komm!, und ich wollte endlich raus, raus aus dem Gruppenreisetrott, aus dem Gebummel und Getrödel. Ich wollte etwas sehen, mit meinem Körper sehen, nicht nur mit den Augen, wollte anknüpfen an die transzendente Empfindung während des Frühgeläutes, die Energie herauslassen, die aufgestaute, die sich versteckt gehalten hatte hinter Vitamin D-Mangel und Alltagsscherereien. Ich zog mir wärmendes Gewand über die Tempelkluft, Wetterjacke, Schal, schnürte die Sportschuhe und machte los.