291 Zwei Fotos

291 Zwei Fotos

München, Mai 2025.

I

Der dünne Lederblouson über einem Spitzentop war dem geplanten ausgedehnten Spaziergang durch den Englischen Garten – wo Wiesen aus Margheriten und Nelken blühten – mehr als abträglich, ich fror im fegenden Wind, sodaß ich spontan entschied, die Foto-Ausstellung der Hypo Kunsthalle zu besuchen, die damit warb, eine moderne Interpretation der Story of Men aus dem Jahr 1955 zu sein. Ein Versprechen, das nicht eingehalten werden konnte, weder konzeptionell, noch von den Bildern her, durch beides zog sich eine gewisse langweilende Oberflächlichkeit, und die Begleittexte „in einfacher Sprache“ hätte man sich schenken können mangelnder Informationen wegen: ein aus journalistischen Publikationen bekanntes Blabla-Geschwafel ohne Konsistenz und Biß (geschweige denn einer Ermächtigung zur Meinungsbildung dienlich). Ich erwähne es lediglich, um die Stimmung zu schildern, in der ich mich befand, als ich die Säle durchmaß und die meist großformatigen, gerahmten Bilder betrachtete (von denen mir manche durchaus zusagten, nur eben nicht im Kontext der ausgerufenen „Story of Men II“), nicht wirklich enttäuscht, eher ernüchtert, abgeklärt, analytisch.

– Es strahlte eine Faszination aus, die mich sofort gefangen nahm.  –

Ein Netz aus Energie und Attraktion war über mich geworfen, mich bannend. Es war klar und leer, geometrisch und belebt zugleich. In streng symmetrischer Frontsicht blickte man auf eine Allee aus geradlinigen Strukturen, deren glatte, aseptische Oberfläche metallen blinkte. Es schien ein abgeschlossener Raum zu sein, der zugleich freigestellt wirkte, gelöst aus jeglichem lokalen, zeitlichen Kontext; am Grund verwarf sich die Schaumgischt dichter fallender Wassermassen, die sich unsichtbar aus dem Nirgendwo ergossen in Schwällen. Entfernt erinnerte die Szene an eine ins Meer gesetzte Brückenarchitektur bei Starkgewitter, wobei die Lichter zart gehalten waren in sanftem Bleu, Gris, Mauve, Pastellviolett. Ein ambivalentes Motiv, in sich selbst höchst stimmig. Es schien mir die Entsprechung eines Yin und Yang Gedankens, der Kern eines Zen (fern des Bambus- und Kieselstein-Klischees). Das Foto besaß eine solche Kraft, eine Reinheit in spirituellem Sinne, wie man ihr selten begegnet.

Das ist vielleicht das schönste Bild, das ich je gesehen habe, dachte ich mir, wissend, daß viele es nicht begreifen könnten, nicht unterschreiben würden. Eine Frau in den späten Fünfzigern referierte dem Gatten ihre Meinung zu eben jenem Exponat, ein längerer Monolog. „Es hat diese enorme Kälte! Gruselig!“ rief sie aus, „Würdest du dem so zustimmen?“ Der Ehemann brummte nickend, sie zogen weiter. Ich war mir sehr sicher, daß die Dame ihre Überzeugung erlangt hatte nach der Lektüre des beigefügten Schildchens, daß der Inhalt der Information ihren Blick eingefärbt und geprägt hatte, denn auch ich kämpfte mit dem mehr als deutlichen Unbehagen: darf man eine Sache berückend schön finden, die derart viel Leid und Destruktion birgt, Potential zu Mißbrauch, Katastrophe, Massensterben? – Ich stand vor der Innenansicht eines aktiven Kühlturmes, die polternden, wischenden Wassermassen der fragile Schutzschild gegen den nuklearen Super-Gau.

Trotzdem. Ja. Es zählte zum erhabensten, ästhetischsten, das mir seit langem untergekommen ist, in einer Welt, die uns flutet mit digitalen Bildern (so sehr, daß sich unsere Aufmerksamkeitsspanne von kürzlich noch zwölf Sekunden auf acht Sekunden verringert hat). Ich harrte etliche Minuten dort aus, den Blick wieder und wieder schweifen lassend; die Pigmente des hervorragenden Druckes glommen und schimmerten sanft unter den elektrischen Birnen, eine weitere Ebene hinzufügend. Die gigantische Menge Wasser, niederstürzend, aufprasselnd, eigene Wellensäume zaubernd, hielt den stoischen Metallträgern Paroli, sie waren gleich stark, gleich mächtig, ebenbürtige Gegner.

Ich tat hernach, was ich meistens tue: ich beschloß, dem belgischen Fotografen ein Mini-Feedback zu senden. Auf der Rückfahrt beschloß ich es, wo im Autoradio plötzlich Alexis Ffrench´s (sic!) Bluebird gespielt wurde, ein lukullisch-poetisches Piano-Stück, das mir letzten Sommer während des Genter Jazz Festivals erstmals zugetragen worden war. Wenn das kein Wink war, kein Omen im Coelho´schen Sinne, zwei Belgienbezüge an einem Tag, et voilà!

Es war leicht, an die Mailadresse zu geraten, ich schrieb exakt zwei Sätze, daß ich das Foto in der Münchner Civilization – Ausstellung gesehen habe und mir gedacht, es sei das schönste je betrachtete Bild (oder sagen wir eines davon).

Ein paar Stunden später erhielt ich Antwort. Kein Geist war ich, dieses Mal nicht. Resonanz, ganz gleich, auf welch niedriger Ebene. Kreise erzeugen, existieren, fähig sein, Interaktion hervorzurufen, und sei es für das Milliardstel einer Milliardstel Sekunde (denn auch dies war präsentiert gewesen in der Hypo Kunsthalle als grizzelige dunkelblaue Kugel mit orange-gelbem Innenleben, ein Photon, geschossen im Zeitraum einer Milliardstel Milliardstel Sekunde für medizinische Zwecke). –  Der Fotograf berichtete, er habe eine Serie Kühltürme aufgenommen; daß die Strukturen zehn Meter hoch gewesen seien; und der Lärm des Wassers schier unerträglich, kaum auszuhalten, sodaß er nach nur einer Viertelstunde habe flüchten, den Ort verlassen müssen; daß es ihn gefreut habe, Nachricht zu erhalten mit meinem Kompliment. Warms my heart! , hieß es.

Ich hatte zwei Möglichkeiten, zu reagieren. Entweder gar nicht oder als halben Roman, ich sann gründlich nach und entschied mich für letzteres, ahnend, daß es zu nichts führen würde, wörtlich. Ganz oder gar nicht, so bin ich, und fürs Lebensgefühl dann doch lieber Ganz. Volle Kraft voraus! Ich bin stark, ich bin viel, überfordernd, unbequem. Ich grinse über diese Passage hinweg. If I cross borders – please take my apologies, warnte ich vorab. Um diese “Entschuldigungen” geht es mir hier nämlich: ich ertappe mich wieder und wieder dabei, Entschuldigungen zu murmeln als Ausdruck des Bedauerns oder als Eingeständnis eines Fehlers. Wenn ich mir Streitsituationen ins Gedächtnis rufe oder ich im Kopf mit meiner Freundin spreche, die keine Freundin mehr ist – oder ist sie es noch und „nur“ die Freundschaft fehlt? Ich kann sagen, ich gebe mein Bestes, jeden Tag, versuche, zu reflektieren, andere Seiten zu sehen, Dinge zu drehen und zu wenden, ehe ich eine Meinung fälle oder handle. Für mich war es bei dem belgischen Fotografen am stimmigsten, meinen Senf abzugeben (in etwa der Inhalt dieses Beitrages), es loszuwerden, ihm Flügel zu verleihen und zu kucken, was passiert. Wenn man den anderen, den Adressaten, damit belästigt, bedrängt, ihm zu viel oder zu anstrengend wird, man ein Territorium unrechtmäßig betritt, so tut es mir leid.

Das künstlerische Abbild eines gefährlichen Kühlturmes als letzteres anzuerkennen und ersterem dennoch einen abstrahierten Eigenwert zuzusprechen, das – würde ich behaupten – macht das aus, was man in Japan Nagomi nennt. Ich glaube, Nagomi ist ein Weg aus der westlichen Misere eines Schwarz-Weiß-Musters, das Fronten verhärtet, anstatt zu Lösungsgesuchen anzustiften. Nagomi wäre dabei mehr als ein Grau, als ein Zwischenton: es ist die Vereinbarung zweier Widersprüchlichkeiten, indem es die Wahrheiten beider Pole anerkennt.

Ich habe eine Ausstellung besucht. Der Lederblouson über dem Spitzentop war zu luftig gewesen an einem windigen, stahlwolkenen Tag, an dem die Nelken leuchteten und die Margheriten in der kühlen Brise wogten.

 

II

In der Arztpraxis saß ich, auf eine Blutabnahme wartend. Ich hockte in dem kleinen Zimmer auf der Pritsche, mir gegenüber, an der Wand, ein Foto. Ich bin nicht oft vorstellig, manchmal schmunzeln sie, wenn ich nicht genau weiß, wie das funktioniert mit der Manschette oder dem Ultraschall oder dem bürokratischen Procedere. Was mich verbindet, sofern man von Verbindung reden kann hier, ist der Start in mein Reiseleben (ich hatte mir für die Wochen in Südamerika 2009 sämtliche empfohlene Impfungen geholt) und die Reiselust des Mediziners. Analogabzüge in bescheidenen Holzrahmen schmücken dezent die Räumlichkeiten, Madagaskar 1994 etwa, was mich stark beeindruckt, weil das Unterwegssein in fremden, fernen Ländern vor dem digitalen Zeitalter (ohne Smartphone – GPS, – Wettervorhersage, – Recherche, – Organisation) ebenso völlig anders, schwieriger war, wie das Fotografieren. Bevor also die Spritze mir ein wenig Blut abzapfte, hatte ich Gelegenheit, mich mit dem Foto zu beschäftigen, das mir Gesellschaft leistete: es war relativ simpel vom Aufbau her, ein Ganzkörperportrait eines jungen, athletischen Mannes, der stolz einen stattlichen Fisch neben sich erhoben hält. Er lacht. Die Muskeln des freien Oberkörpers sind definiert, angespannt, der Anstrengung wegen, der Fang muß ein ordentliches Gewicht haben. Der Boden ist sandig, ockergelb wie die spärliche Bekleidung, ein Schurz? Von der Umgebung ist nichts weiter zu sehen – oder aber sie ist derart dezent hineinkomponiert, daß ich mich nicht erinnern kann daran. Das Bild ist ein starkes Bild, voller Ausstrahlung, obwohl kaum etwas darauf festgehalten ist. Es imponieren weder nur der komplett durchtrainierte Mann, noch der silbrige, fette Fisch, es ist dieses Lachen, das verzaubert, das alles beseelt, ein Lachen, das dem Fotografen gilt, dem Reisenden damals, irgendwann in den Neunzigerjahren, ohne Handy, ohne Cancel-Taste. Lichtjahre entfernt vom Selfie, vom Instant-Schnappschuß, Drücken und Go. Ich hätte es ihm gern gesagt, das mit dem besonderen Foto, dem Arzt gesagt, der irgendetwas von eventuellem Leistenbruch beidseitig murmelte, was ich geflissentlich überhörte, so wie ich kürzlich bei der Phlebologin das „geschädigte Gewebe“ an den Zehen überhörte und daß die Füße keinesfalls je wieder Kälte ausgesetzt sein dürften, ich sperrte die Ohren zu, denn im August schon ruft es mich, Westgrönland, wo es zu den Eisgletschern geht, Trekking und Zelten am Küstensaum.

Ich glaube oft, Fotografie bedeute mir nichts mehr, der Akt des Fotografierens, sich mit Fotografie generell auseinandersetzen, mit den Themen beschäftigen, die sie umtreibt. Aber ob nun ein Kühlturm oder ein Fischerjunge, preisgekrönter Lost Place Fotograf oder Hobby-Reisefotograf – es gibt Bilder, immer noch, die klinken sich ein in die Seele. Sie sprechen zu einem – das eigene Innere spricht mit ihnen, ungeplant, spontan, bewegend.

 

Illustration zeigt die Innenseite der Dachkonstruktion einer Seouler Präsenzbibliothek