289 Stille Party

289 Stille Party

München, Februar 2025.

Die in der Blumenwerkstatt bestellten Rosen, großblütig, weiß in verschiedenen Sorten, vierzig an der Zahl, wirkten schlaff und traurig. Nach zwei Tagen bereits zeigten sich an den Köpfen braune Ränder; kurz darauf setzten die Mitten matschig-faulige Stellen an, rieselten Blütenblätter zu Boden. Das Bouquet hatte eine Sünde gekostet, eine Sünde, die man sich gar nicht selbst zukommen lassen darf, wie das Schicksal demonstrierte: irgendwo in der Lieferkette hatte es Frost gelitten. Ich sah es eigentlich auf den ersten Blick und besaß zwei Optionen: Ablehnen, einen Konflikt aufwerfen (schon wieder einen), meinen Geburtstag vorab vergiften mit Zwistigkeiten; oder schweigen und zahlen und den Rosen beim rasanten Sterben zuschauen, Memento Mori im Schnelldurchlauf. Ich wählte letzteres. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß in meinem Leben stets ein Teufelchen mir auf der Schulter hockt, dazwischenpfuschend, wo nur möglich, schadenfroh feixend, sich amüsierend.

Ich besuchte ein Konzert, chic hergerichtet. Ich bemerkte kaum, daß ich mich unbegleitet fand, ausgerechnet zum Runden; der Postbote hatte mir en passent berichtet, daß seine Januar-Geburtstage stets im Freien gefeiert würden, weil er die ca. 80 Gäste anders nicht bewirten könne aus Platzgründen; daß dafür vier Grills aufgestellt würden und jeder zum Büffet etwas beisteuere. – Ich genoß in aller Einkehr Mozarts Kleine Nachtmusik, Beethovens Sturm und Vivaldis Vier Jahreszeiten, letzteres vorgetragen von Ray Chen, den ich bereits früher einmal erleben konnte (vgl. Beitrag 220). Ein Publicity – Mann, der um Charme und Attraktivität wußte und höchst selbstbewußt eine Darstellung gab, die einiges an Show enthielt, abgestimmt auf die Bedürfnisse eines Instagram-Publikums. Da mir das barocke, überpointierte Minenspiel zu aufgesetzt war, zu affektiert und zu viel, hielt ich die Augen meist geschlossen; ich ließ die Musik ganz tief in mich einsickern, als sei mein Körperinneres eines poröse Kalksteinhöhle, charakterisiert durch Tropfsteinformationen, wie ich sie einst in Portugal erkundet hatte, in Irland und vielen anderen Orten der Welt.

Ein Rätsel bleibt, weshalb ich ausgerechnet in jenem Moment die Lider geöffnet hatte; eine Neuronenfotografie brannte sich mir ins Hirn, ein Standbild. Im Übereifer Chens riß ihm eine der Saiten mit einem straffen Pling!, da gefror die Szene: eine amorphe ringförmige Staubwolke, die sich unregelmäßig in der Luft verteilte (ich kenne das nur aus Zeitlupenaufnahmen eines Schusses in Krimifilmen), zwei schwarze, glänzende Mandeln, die sich in mich hineinbohrten und Gesichtszüge so voller Verdutztheit, daß ich schmunzeln mußte, noch bevor ich recht begriff, was gerade geschah. Als ihm die Saite davonschnalzte, starrten wir uns an, nur er und ich. Die Millisekunde verstrich, es kam wieder Bewegung in die Szene. Während das Orchester noch kurz weiterfidelte, wandte er sich der 1. Geige zu, sein Instrument in die Höhe reckend. Beide tauschten. Doch was sollte die 1. Geige mit dem defekten Instrument des Starsolisten? So wurde abermals getauscht, ganz nach hinten, ich bezeichne das einmal als die 5. Geige. Jene, ein junger Mann, zog konzentriert und gewissenhaft eine neue Saite ein in des Maestros Stradivari, was tatsächlich ein Weilchen dauerte; unterdessen wurde das Konzert fortgesetzt. Interessanterweise klang das Spiel Ray Chens nun völlig anders – lag es allein am Wesen der fremden Geige? Nein, er selbst gab sich offenkundig zurückhaltender – braver, möchte ich sagen. Irgendwann war das Instrument fertiggerichtet, es erfolgten ein neuerlicher Tausch und dann immer wieder frisches Stimmen. Der Fluß des Spiels war gestört. Das Publikum ging darüber hinweg, der Applaus im Anschluß war furios. Immer wieder kam Ray Chen zurück auf die Bühne, sich verbeugend, plaudernd, Zugaben schenkend. Zwei, drei Mal erhaschte er beim Abgang meinen Blick, den ich eigentlich sogar senkte, aber er fischte danach, fordernd. Er tat es gewiß nicht, weil ich eine Frau war, chic hergerichtet, tat es nicht aus Flirt oder Selbstbestätigung seines Charismas. Er tat es, weil wir Komplizen waren: wir haben dasselbe Neuronenfoto geschossen, den Schwall explodierenden Staubes im Saaldämmer, das sich kreuzende, verfangende Augenpaar in jenem Moment der Schwäche, des Faux Pas´; ein musikalisch unterbelichteter No Name und ein zeitgenössischer, gefeierter Virtuose, verschmolzen durch puren Zufall. Er wird es vergessen haben rasch, während es mir zu einem Fetzen für die Seelenschatzkiste wurde, winzig und kostbar.

Noch in der Woche darauf stellte ich fest, daß ich wartete. Ich wartete nicht unbedingt konkret, so wie man auf den Bus wartet oder den Beginn einer Kinovorstellung, beim Arzt, an der Supermarktkasse. Es war eher wie ein Warten darauf, daß etwas passiere. Man könnte es vielleicht eine Erwartung nennen; nicht bangend, nicht hoffend, nicht ungeduldig, sondern diffus eben, ohne jede Ungeduld. Umso überraschter notiert man dann: die Zeit des Wartens ist verstrichen ohne Ereignis, ohne Eintreten. Alles ist geblieben, wie es war, ein Tag wie jeder andere, eine Woche wie üblich. Keine Buttercremetorte, die einem ins Gesicht geworfen wird. Keine Luftschlangen im Haar, keine Papier-Törröööt!!  im Ohr, keine überdrehte Spannung, kein Gelächter, keine überlaute Musik. Keine Lichtblitze, Cocktaildünste, keine gegen Gespräche und Discobeats anschreienden Stimmen: „Hä? Was hast du gesagt??!!“ Kein gemieteter Sportwagen vor der Tür zum geselligen Cruisen, keine Ausgelassenheit, Partystimmung. Pakete, die schon, stumme Boten voller Gegenstände, und Karten, derer einige, ja, das durchaus. – Keine verschwitzen, geröteten Gesichter, verstrubbelten Haare, lallenden Stimmen, wankenden Toilettengänge – zu zweit, ladylike, was sonst. Überhaupt nichts Lebendiges, Lebensfrohes, Gemeinsames. Kein Feuerwerk um Mitternacht, kein Gläschen Champagner (oder wenigstens Sekt). Ein Anruf nur von der Großtante, auf die Neunzig zuschreitend (das meine ich nicht abwertend, im Gegenteil, es hat mich gefreut). Drei Whats App Nachrichten und wie erwähnt Pakete, auch drei Stück. Kaffee kochte ich, reichte Kuchen vom Bäcker, alt und wabbelig und viel zu fett. Die Tafel hatte ich nett gedeckt mit allem, was dazu gehört: romantischer Leuchter, fünf elegante gewendelte Stabkerzen (wie im Italo-Film Der gezähmte Widerspenstige mit Adriano Celentano), Leinentuch, Stoffservietten in Ringen, Art Déco Porzellan; gedeckt für drei Personen, meine Eltern und mich. Eine Stunde mochte das gedauert haben, untermalt von Einaudi und Bowie. Gassi, Hühnerversorgung, Wahl (Bundestag), abends ein spontanes Klingeln für ein halbes Stündchen, die Mutter jener Freundin, die mich dreiunddreißig Jahre begleitet hatte und mit der es zum Bruch gekommen war letzten Mai. – Das war er also, mein vierzigster Geburtstag. Zerfließe ich in Selbstmitleid?

Nein. Denn nachdem das Warten sich gelegt hatte, das Warten auf Papier-Töörröööööt!, auf verschwitztes, Cocktail geschwängertes Gelächter, Sportwagencruisen und Lebensjubel, auf geteilte, gegenseitige Freude und partygrölendes Yeaaahh!, nachdem das Warten also fortgezogen war ohne weiteres Ereignis, da blieb die Wahrheit zurück auf einem Silbertablett, still und unaufgeregt (und längst, längst schon gewußt): daß ich ein Mensch geworden bin im Laufe der Zeit, der vergangenen Jahre, der hart daran gearbeitet hat offensichtlich, alleine zu bleiben. Dem ein Tier, eine Pflanze; ein Buch, ein Kunstwerk; eine Landschaft; ein Lied näher ist als jeder andere Vertreter seiner Spezies. Mein Geschenk war die gerissene Saite, die Wolke aufplatzenden Staubes, zwei schwarze Mandeln, für Millisekunden verankert dort, wo die Tropfsteinhöhle wundersame, unentdeckte Formationen unsagbarer Schönheit bildet.