287 Baustellen

287 Baustellen

München, Dezember 2024.

Ein metallenes Donnergrollen spieh zischenden Graupel aus, ihn am Fenster vorbei- und durch den Garten peitschend. Kaltgrau verdüsterte sich das Licht im Zimmer, wo ich gerade den Putzlumpen schwang. Nicht lange und der Wind flaute ab, dicke weiße Flocken ausschüttelnd. Es war zu wenig, um liegen zu bleiben, aber ein Frost hatte andernnachts angezogen und Raureif beschert, der im Sonnenlicht des neuen Tages – des Heiligabends – glitzerte und glomm. Als ich davon schrieb in einer Mail an einen früheren Guide, eine zeitlose Dame voll positiver Energie, voll Schwung und Frohsinn, antwortete sie mir, es seien die Zeilen, der Blick eines Fotografen, was mich kurz erstarren ließ wie die Samenstände der Nesseln und Karden im Wald: ich bin kein Fotograf, bin es nie gewesen. Ich war jemand, der Fotos machte, wenig professionell; der es nun nicht mehr tut seit selbst mir unbekannter Weile. Es war lieb gemeint gewesen, ein Kompliment, das ich durchaus gerne annehme, weil freundliche Worte und Gesten dieses Jahr spärlich gesät gewesen waren.

Daß es nichts weiter zu erzählen gebe, gegeben habe, stimmt so gewiß nicht.

Da wäre die Sache mit der Anzeige. Ein Polizist rief mich an, mir mitteilend, ich sei der Beleidigung bezichtigt worden. Ich soll zu einem Straßenarbeiter gesagt haben: “Sie sind blöd.” Habe ich nicht; aber eine Auseinandersetzung hatte stattgefunden, ja, eine lautstarke, definitiv. Ich war aufgebracht, erzürnt, stocksauer; ich hätte nun Gelegenheit, eine offizielle Gegendarstellung abzuliefern. Ich dachte an die Banküberfälle (mehrere binnen kurzem) in den unmittelbaren Nachbardörfern, an die nun regelmäßigen Berichte über Mordtaten im jahrzehntelang sicheren München, an blutige, hinterlistige Gewalt in öffentlichem Raum, und da sollte ich die Justiz in Aktion halten, weil man behauptet hatte, ich solle “Sie sind blöd!” gerufen haben? Wo, in welchem Film bin ich gelandet? Ist das ein Kindergarten, ein Tollhaus, eine Gesellschaftsneurose? Wie peinlich ist es, als Mittfünfziger zur Polizei zu rennen, um eine solche Anzeige aufnehmen zu lassen (mir hatte er übrigens während des Zwistes verächtlich lächelnd an den Kopf geknallt, daß ich eines Führerscheins nicht fähig sei, aber was Wunder, als Frau…! – prima, daß wir alle so brav gendern, hat volle Wirkung entfaltet). Nee, meinte ich zum Polizisten, ich verzichte auf die Gegendarstellung, die Polizei, die Justiz dürften anderes zu tun haben. Als der Zorn verflogen war, freute ich mich auf das angekündigte Schreiben vom Staatsanwalt; ich gelobte mir, eine Flasche Champagner zu öffnen und zu feiern, daß ich offiziell nicht mehr zu den deutschen Oberspießern zählte; wow, ein Verstoß samt Verurteilung und Bußgeld, ein Strafdelikt! – Ja, und dann. Blieb die Anklage aus. Stattdessen wurde eine temporäre Ampel zur Verkehrsregulierung installiert während der verbleibenden Teerarbeiten auf der Hauptstraße des Ortes, damit man eben nicht mehr blind in den Gegenverkehr der B2 fahren mußte, um dann in der Kurve rückwärts einem Lastwagen auszuweichen, was ich ehrlich gestanden ziemlich amüsant fand.

Was hat es noch gegeben? Einen Tapetenwechsel imzuge eines Yoga Retreates, zehn Sessions auf fünf Tage verteilt, angeboten von einem Luxushotel am Tegernsee. Tja, der Luxus bestand darin, daß andere Gäste sich mit hocherhobener Nase an ihre fette Louis Vuitton- Tasche klammerten (die eignen sich stets am besten, weil das Leder über und über mit dem Signature-Logo übersprenkelt ist; wäre ja auch zu blöd, wenn die anderen nicht mitbekämen, daß man für das Teil mehrere tausend Euro investiert hat), Prosecco nuckelten und in Bademantel und -latschen durch die Flure stapften, auf denen übrigens in den Ecken die Flusen wirbelten, als Marie Kondo – Fan für mich ein absolutes No Go. Auch der Tapetenwechsel im eigentlichen hat nicht so ganz geklappt: es waren exakt dieselben geprägten diagonalen Zickzack-Streifenmuster, wie sie bei uns im Haus angebracht sind seit über vierzig Jahren, sogar in einem ähnlichen Ton gestrichen, bei uns graubeige, dort graugrün, trotzdem ziemlich sich gleichend. Das Yoga hatte es in sich, dafür lohnte es sich, oder auch für Spaziergänge spätherbstliche Bergflüsse entlang, wo die Sonne bernsteinerne Waben ins Wasser zeichnete, als zöge ein Strom reinsten Honigs vorüber.

Desweiteren der Besuch auf den Mineralientagen, wo in mächtigen Vitrinen faszinierendste Stufen ausgestellt waren, amorph-geometrische Wunder aus dem Bauch unserer Erde, manche milchig-opak, andere gläsern-durchscheinend, herrlichste Farben, pooltürkisene Fluorite, poliert-spiegelnde Pyrite, gigantische Bergkristalle; dazu Versteinerungen von Libellen, Trilobiten, Fischen, buntesten Baumscheiben. Ein Ausflug in die tiefste Vergangenheit unseres Planeten, ein unfaßbarer zeitlicher Maßstab. Wie unendlich kostbar die Natur doch sei, dachte ich mir ehrfürchtig. Ein kleines Stück davon erstand ich, eine ca. zwanzig Zentimeter lange Rauchquarzspitze mit aufsitzenden Pyritquadern, als habe ein Goldschmied Hand angelegt; es stammte aus einer portugiesischen Mine (man möchte ja doch auf eine ethisch vertretbare Herkunft achten), wurde aber angeboten von zwei jungen Franzosen, sehr stilvolle, attraktive Herren. Zur Bezahlung ging es in einen winzigen vom Stand abgetrennten “Nebenraum”, geschaffen durch Vorhänge, wo unter und neben dem Tisch sich etliche geleerte Rotweinflaschen stapelten, bestimmt ein dutzend. Ich grinste, zeigte darauf und sagte: “Oh! I missed the party!” Sie stutzten beide, kriegten rosige Wangen und lachten. Daß sie mir für die Eröffnung nächstes Jahr eine Karte schicken würden, auch wenn für diese eigentlich nur Fachbesucher zugelassen seien. Ich hatte beiden längst auf die Hände gekuckt, wo am falschen Finger je ein Ring stak, und lehnte dankend ab. Ab einem gewissen Alter wird man äußerst rational.

Oder die Munich Highlights Kunstmesse, wo ich meinem “Lieblingshändler” eine Schachtel Pralinen vorbeibrachte, das Motiv ein Dackel. Er besitzt einen West Highland-, ich einen Boston Terrier, das nehmen wir als loses Plauderband her. Jedenfalls möchte ich gar nicht von der Kunstmesse berichten, sondern davon, daß ich nach weiteren Besorgungen in der Stadt relativ schick gewandet an der Residenz vorbeihastete. Ein Frau stoppte mich. Daß ich wirke, als sei ich kulturinteressiert. – Ja? – Ob ich ihr nicht zu dreißig Euro eine Konzertkarte für die Residenzkirche abkaufen würde, einstündige Gesänge aus Frauen- Zisterzienserklöstern des 13. bis 15. Jahrhunderts? – Und ob ich wollte! Ein Geschenk des Zufalls, spontanes Glück… Mich erfaßte unbändige Freude, denn Überraschungen (angenehmer Art) ereilen mich nur noch höchst selten. – Die Toilette war nicht nach Geschlechtern getrennt, ein ziemlich altbackener Raum mit Waschbecken und nachgelagerter Klokabine. Vor mir wartete bereits eine Frau, als nach mir ein Jüngling eintrat, komplett dunkel gewandet, der Haarschnitt ein gelockter Fukuhila, in der Nase ein Piercing wie bei Stieren, die Augen dick mit Kajal umrandet. Die Schuhe waren fein geputzte Budapester, zur schwarzen Jeans trug er Hemd und Wester gleicher Farbe. Ich überlegte, ob ich ihn für seinen coolen Style lobend ansprechen sollte, dachte aber an Korfu und die Angrabe-Unterstellung (vgl. Beitrag 286), unterließ es also. Zudem öffnete sich die Tür abermals, ein Pater in schlichter brauner Kutte mit Kordel um die Teile gesellte sich zu uns, er wirkte wie aus einem Spielfilm, und ich mußte schmunzeln über uns ulkige Gestalten (ulkig in dieser ungleichen phänotypischen Zufalls-Kombination auf einer etwas heruntergekommenen Toilette). Als die Musiker kurz darauf ihre Plätze einnahmen auf der Kirchenbühne, zwei Frauen mit Gänsehaut rieselnder Stimme und ein Harfenspieler, blieb mir die Spucke weg, denn an eben jener mittelalterlichen Harfe saß der Fukuhila Jüngling; das Trio lieferte ein phänomenales Konzert.

Und schließlich, wie ich den Postler schimpfte, weil er stets nur Werbung und Rechnungen brachte oder Bestellungen, kaum aber Weihnachtskarten. Am Heiligabend wartete eine solche im Briefkasten, das Motiv Glitzerkugeln mit der Aufschrift: Frohe Weihnachten und ein glückliches Neues Jahr. Innseitig ging es handschriftlich weiter wünscht Dir / liebe Laura/ der Lieblings / Postbote

Ja, doch. Erzählen könnte man schon immer wieder. 2025 steht an, Pläne habe ich kaum, Erwartungen, Vorsätze. Das scheidende Jahr war unfreiwillig leer, fast inhaltslos gewesen, angereichert mit Konflikt, sobald man vor die Tür trat. Aufgezwungene Leere ist wenig ertstrebenswert; vielleicht kultiviere ich das Blanko heuer absichtsvoll, entscheide mich bewußt und aus eigenen Stücken zu einem umfassenden Time out. Ein freies Nichts mag die Blaupause sein für Neuanfänge welcher Art immer. Lassen wir den Bagger ruhen, Abriß, Aufbau, Instandsetzung, Renaturierung, wurscht was, das Weltkarrussell soll sich weiterdrehen, während ich abgekapselt, zurückgezogen, entfremdet Bowies Space Oddity lausche und seinem Starman und Golden Years und unbekannte Nischen-Bücher lese wie Kenya Haras 100 Whites.

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