283, Teil I: Die Durrells verpaßt um hundert Jahre
Korfu, September 2024.
Nach dem gemeinschaftlichen Essen, das üppige Buffet eines Sport-Animations-Clubs war reichlich leer geplündert, hinter mir das Schnacken von etwa hundertfünfzig Gästen, lehnte ich am Geländer der Barterrasse, auf das nächtliche Meer unter mir blickend. Aufziehendes Schlechtwetter verwarf seine Oberfläche in wildes Schwappen; das Mondlicht wurde herumgeworfen wie eine Armada Papierschiffchen. Es war nicht silbrig-zart, ätherisch-flüchtig, sondern zeigte sich als Ansammlung kompakter, nicht näher definierbarer Gegenstände; beinahe wartete es darauf, abgeschöpft zu werden wie beim Käsen der Bruch, nachdem das Lab zur Gerinnung geführt hat. Klingt das jetzt romantisch? … Ich legte den Kopf schief, um Worte ringend, das zu schildern, was ich sah. Durch die Vierteldrehung ergab sich noch ein anderes Bild, der Abstraktionsgrad erhöhte sich, es klinkte mir in die Seele ein, sank hinunter in die Schatzhöhle. In dieser Sekunde am Ende des ersten Abends auf Korfu begriff ich, es würde dabei bleiben. Ich würde nicht finden, wonach ich suchte. Es würde nicht passieren, das Beben der Erhabenheit.
Lag es an Korfu? Am Trümmer- und Minenfeld in meinem Inneren? Meine Sitznachbarin des nächsten Abendessens, die mir lang und breit erörtert hatte, daß sie zu den Sensiblen, Empfänglichen gehöre, die viel mehr aufnehmen und spüren und mitkriegen als die meisten anderen, die schmiß mir diese verständnislosen Augen zu, als ich auf ihre Frage, wie mir der Urlaub bisher gefiele, antwortete, ich befürchte, mit dem Mondlicht meinen einzigen Seelenmoment hier gehabt zu haben. – Und wieder waren es andere Wesen, die mir wirklich nah kamen während der Woche: eine winzige, weniger als drei Zentimeter kleine Gottesanbeterin, die ich auf dem Weg vom Strand ins Hotel einfing, obwohl andere geunkt hatten, sie sei zu schnell, ich erwische sie nicht; und dann hatte ich sogar Mühe, sie wieder abzusetzen, sie wollte einfach meine Hand nicht verlassen, egal wohin ich sie wandte, so studierte ich die gezackten Fangarme, das dreieckige Maul, die alienhaften Augen, und ohne jemanden verletzen oder kränken zu wollen, in den Augen dieses Insekts erkannte ich mehr Verständnis, mehr Resonanz und Interaktion als in all den unzähligen Menschenaugen, in die ich die Reise über Gesprächen lauschend schaute… Ein anderes Mal las ich eine miniatureske Schildkröte auf, die ich zunächst für Plastikmüll gehalten hatte, ein Lilliput, der mich zum Quietschen brachte, so niedlich. Behutsam umfaßte ich den Panzer mit Daumen und Zeigefinger. Nach einer kurzen Weile schob sie mir die Vorderfüßchen und den Kopf entgegen, ein famos hübsches Tier, die Krällchen und Runzeln, die Schnute, die schwarzen, endlosen Pupillen, die mich zurückkatapultierten, weit zurück, ein Zeitenriß, ich tauchte den Atem anhaltend vor Galápagos, eine Meeresschildkröte begleitend, bestimmt siebzig Zentimeter groß oder mehr, die Luftblasen gen Himmel blies, schillernde Kugeln, und deren Augen unergründlich mystisch gewesen waren wie der Ozean, das Universum selbst (vgl. Beitrag 3). Ich schoß in die Gegenwart, der Zwerg zappelte und strampelte langsam, sich wundernd, was und wie ihm geschah. Auf der Unterseite des Panzers klebte noch eine rötliche, gallertartige Substanz: das Schildkrötenbaby war frisch geschlüpft gewesen, als es auch schon meine Bekanntschaft machte. Ich wünschte ihm, daß ihm alle Menschen so wohlgesonnen begegnen würden und entließ es im Gras abseits der Schotterpiste in seine ihm zustehende Freiheit. Zwei Minuten später schoß ein Jeep heran, über die Schlaglöcher polternd.
Ich entschuldige mich. Ich bitte um Verzeihung für die Negativität der Texte und deren wenig flüssigen Stil, das Unrunde und kaum Geschmeidige, dem die nonchalente Leichtigkeit fehlt, sprich: das Können. Ich entschuldige mich dafür bei den raren Lesern, die verblieben sind, tapfer; ich entschuldige mich bei mir selbst, die ich das Leben mit Füßen trete in der Unfähigkeit, Mensch unter Menschen zu sein. Ich entschuldige mich auch bei Korfu, das von Anbeginn an keine Chance haben konnte, weil ich das gefilterte, verklärte Korfu der britischen, auf wahren Begebenheiten beruhenden Serie “Die Durrells” erkunden wollte, das nicht mehr existiert, weil bald ein Jahrhundert verstrichen ist, seit die Durrells angelandet waren. Ich mochte die Film-Familie Durrell, weil der Charakter deren Mitglieder durch die Bank schräg, eigen, kautzig, verschroben, speziell gewesen war. Ich mochte die unberührten Wiesen, die menschen- (und hotelbauten-) leeren Steilküsten, das Ursprüngliche und Bäuerliche, das schmeichelhafte, tröstliche Licht. Heute ist Korfu auf Leute wie mich eingestellt: Touristen. Ich verachtete mich dafür, als solcher auf die Insel geflogen zu sein. Wir waren wie der omnipräsente Plastikmüll eine Pest für das Eiland. Ich will in den Kongo, dachte ich irgendwann plötzlich spontan, hinein in Jopseph Conrads “Herz der Finsternis”. Heute drehen Reisen sich um Fun und Essen, Entertainment und Sonnenliegen und die Gespräche um Kreuzfahrtschiffe und Barfußschuhe.
Die benutzten Gläser wurden vom Barpersonal abgeräumt. An jenem Tag trug der zuständige Mann ein Hemd, das mir als Modeaffine sehr gut gefiel, bunt gemustert und trotzdem schick, offensichtlich ging das. Als er von unserem Tisch die gebrauchten Gläser nahm, wandte ich mich um, ihn auf das Hemd mit einem aufrichtigen Kompliment ansprechend, ich hatte den Eindruck, es freute ihn. Es war ein ungewöhnlich attraktiver Mensch, der allgemein Anklang fand optisch, irgendwo in seinen Zwanzigern vermutlich. Da meinte die Dame neben mir lachend, ich wisse schon, ich befinde mich auf einer Singlereise? Und daß der Beau sich jetzt garantiert denke: Was will denn bitte sehr die Alte von mir? Da fiel mir innerlich der Kinnladen herunter. Ich musterte die ihrerseits aparte Frau, die es gewiß nicht unfreundlich gemeint hatte und die noch einmal gut fünfzehn Jahre älter war als ich. Ihr Kommentar hatte mich getroffen. Ich wollte jemanden für seinen Modegeschmack loben, nicht ihn aufs Zimmer bitten. Und zugleich wunderte ich mich darüber, daß der Schlag so tief gesessen hatte, bis mir klar wurde, sie hatte gewissermaßen recht. Ich interessiere mich für Männer, die jünger sind als ich. Ja. Dabei hatte ich für Leute wie Heidi Klum oder Natascha Ochsenknecht oder Tina Turner die Partnerwahl betreffend stets nur Spott übrig gehabt. Es ist lediglich so: wohin ich mich wende, was ich tue, ich werde ausgebremst, im Alltag vom kranken Hund oder den alternden Eltern, im schleichenden Straßenverkehr, im trägen Geistesleben des Dorfes, egal wohin ich komme, was ich unternehme, ich muß mich herunterregulieren, drosseln, zügeln, bescheiden. Mach mal langsam!, hieß es auf den Wanderungen durch die korfiotische Landschaft. Wie bitte? Ist das jetzt eine Sportreise oder nicht? Heißt es in der Tourbeschreibung Intensivwandern oder nicht? Die ersten zwei Tage versuche ich noch, mein Tempo zu gehen. Vorne voraus, immer wieder wartend, nicht aus Konkurrenzstreben, ich bin der am wenigsten kompetetive Mensch überhaupt, sondern weil ich in dieser Geschwindigkeit gehen muß, um den Kopf frei zu kriegen und die Seele und den Körper glücklich. Einige der Damen stoßen sauer auf, es schmeckt nicht, daß es mühelos stärkere Frauen gibt als sie selbst, das lassen sie mich spüren, die Spannung in Teilen der Gruppe steigt, Zickenalarm kündigt sich an. Ich habe darauf keine Lust, Kindergarten; ich lasse mich zurückfallen, sie haben den Vortritt, sind nun die Leader und plötzlich wie ausgetauscht freundlich zu mir. Auf der letzten Wanderung geht es mir mieserabel, denn leichtes Fieber hat mich im Griff, Gliederschmerzen, Nasennebenhöhlen, außerdem fühle ich den kurz vor dem Abflug an einer Holzpalette aufgeschlitzten rechten Fußrücken, ich bilde das Schlußlicht. Es wird mit Genugtuung aufgenommen; einmal gähne ich unbewußt laut (unhöflicherweise, pardon), da ertönt Triumphgeheul: Ha! Passiert dir das auch! – Wie bitte? – Daß dich die Tour erschöpft! Ich lache mit ihnen. Zu mir sage ich: den Spaziergang meinst du? Sie hielten mich für ausgepowert, verausgabt. Ich war dankbar für das Fieber, für den starken Regen, der alles durchnäßte bis hin zu Schuhen, Socken, Unterwäsche, denn beides erschwerte die Bedingungen, sodaß ich ein wenig doch an meinen Grenzen kratzte und nicht zu ungehalten war darüber, daß wir nach ca. elf Kilometern Strecke die Wanderung abbrachen und uns vorzeitig abholen ließen vom Bus.
Singlereise, wie gesagt, eher zufällig gebucht, einige der Herren flirteten dezent (ein paar andere äußerst offensiv, allerdings jeweils nur ein Mal…). Daß er sich schon bewußt sei, er habe gegen den Barkeeper keine Chance – was zum Teufel hatten denn alle mit dem Barmann zu schaffen?? -, zumal er ja kürzlich acht, neun Kilo zugenommen habe, und daß Frauen halt schon anspringen würden auf Leute wie ihn (wieder die betreffende Person vom Barpersonal, armer Tropf. Hatte er eigentlich je eine Chance, wirklich als ganzer Mensch wahrgenommen zu werden??). Ich kuckte dem netten Herrn neben mir ins Gesicht, treuherzig stierte er mich an, auf eine positive Erwiderung hoffend à la es zählten schließlich innere Werte. Nun. Es zählt für mich: daß jemand seine Lebenszeit nicht mit Gaming verplempert; daß er nicht nicht so ordentlich sei und nur sauber mache, wenn es unbedingt sein müsse; daß er nicht alles googeln muß, sondern Wissen im eigenen Kopf abgespeichert hat, kein repetives Wissen, sondern eines, das zu Transferleistung imstande ist. Für mich zählt, daß er Energie hat und Kaft, ein gesundes (freilich nicht überhebliches) Selbstbewußtsein (er also direkt sagt, was er von der Frau will, anstatt sich in Andeuungen zu verlieren und inständig zu beten, sie ergreife endlich die Initiative). Es zählt, daß er sich nicht ausschließlich von Fleisch und Softdrinks ernährt. Daß Parfüm und Axe Deo nicht das gleiche sind. Und daß mein Gegenüber mich mitreißt, anstatt mich niederzudrücken mit seiner Lethargie, Unentschlossenheit, Bequemlichkeit. All das und mehr habe ich meinem Nebenan nicht gesagt (denn er war wirklich, wirklich von der netten, liebenswürdigen Sorte), aber ich habe ihm ebensowenig den Gefallen getan, die Floskel von den inneren Werten zu trompeten. Übrigens war der Barmann tatsächlich außerordentlich angenehm anzusehen, wieso sollte ich dementieren?
Venezianische Festungen, Mietwagenfahrten, Unternehmungen auf eigene Faust, mitgenommene Tramper, darunter eine dicke, griechische Bauernoma mit Kopftuch und ohne Zähne im Mund; verschlammte, steile Wege, umflort von Dickichten aus Erdbeerbäumen, Dorngewächsen, Beerensträuchern; Wind und Regen und Sonnenschein; gefleckte Frösche, zerrupfte Katzen, Steilklippen, Touristenschrott, lustige Unterhaltungen, Flaxereien, gestrichene Bootsausflüge, sich vor Unwettern in die Buchten Korfus flüchtende Luxusyachten, dezentes Vogelgetriller, Eulenrufe nachts.