281 Tigermilk, lila Samt und Papageiengeplapper

281 Tigermilk, lila Samt und Papageiengeplapper

Belgien, Juli 2024.

Gent? Nie gehört? Wo soll das denn sein? – Ich gestehe, mir ging das bis dato genauso. Aber ich mußte ihn hören, live. Ich mußte, war er doch der heimliche Ehrengast auf meinem letzten Katastrophengeburtstag gewesen. Mein Seelenretter des Januar, des Februar und auch des März, mein Winterlichtblick. Aber um es gleich vorwegzuschicken: Helden gibt es keine mehr in meinem Leben, es hat sich ausgehimmelt. Keine Traum-Abenteurer mehr, die Realität hat mich längst übergossen und als nassen Pudel hinterlassen. Die Fantasie mag Flügel haben und siegen, solange sie im Reich der Fantasie verbleibt (Ah, falls sich wer erinnert: auch hier Ernüchterung, das Prosa´sche Gedichteabo ist nett, finis, nothing more, vgl. Beitrag XXX).

Nie zuvor hatte ich mir ein Essen vorab so genau besehen. Karamellisierte, rote Minizwiebeln, ausgehöhlt und mit winzigsten Tomatenwürfeln gefüllt, beträufelt mit sogenannter grüner “Tigermilk”, die nach Basilikum schmeckte. Orange und violette Blütchen waren darübergestreut, nein: darüberkomponiert, wow! Es war fast zu schade, dieses Kunstwerk mit der Gabel zu zerstören, doch war es am Gaumen so köstlich, komplex und fein abgestimmt wie für das Auge angerichtet. Danach folgte eine Creme Brulée an Lavendelwasser und Honigeis. Es explodierte in meinem Mund! Wo war dieser Koch? Einmal zum Standesamt bitte!! Da es eine halboffene Küche war, erhaschte ich wohl ein paar Mal einen Blick auf ihn, gehörte das Restaurant zu jenem Hotel, in welchem ich nächtigte für einige Tage. Er war brünett, etwa in meinem Alter, leicht untersetzt und mürrisch – vielleicht auch nur konzentriert oder angespannt. Ich bin mir sehr sicher, das Kellnerpersonal hat ihm meine Begeisterungsstürme ausgerichtet, anders kann ich mir die Blicke wie aus Kohlebecken nicht erklären, wenn ich vorüberging (was ich zwangsläufig tun mußte, um das Hotel zu verlassen bzw. zu betreten), doch gelächelt hat er nicht. Ich habe nie ein Wort gewechselt mit ihm und bin auch kein zweites Mal zum Diner dort eingekehrt. Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist.

Drei oder vier Mal begegnete ich dem Jüngling. Er war nicht zu übersehen, für niemanden. Stets stand er in der Nähe der Unterkunft – Literat, Prostituierter, Demonstrant wogegen immer?, Straßenikone oder gar Gast wie ich? Er trug – bei gut fünfundzwanzig Grad auf Asphalt – immerzu das gleiche: die blondlockigen Haare lang und offen, Jeans, Hemd, Sacko, und über dem Sacko eine lange, kastig geschnittene Samtjacke in intensiven Lila, als Krönung einen 60er Jahre Glockenhut aus Seehundfell – exakt jenes Modell, das mir Oma auch hinterlassen hat! Ich wagte nicht, ihn zu fragen, ob ich ihn fotografieren dürfe. Die üppigen blauen und malvenfarbenen Hortensienwälle des Innenhofs wären der perfekte Hintergrund gewesen! Normal, in Bayern sagen wir “ganz bachern”, war der sicherlich nicht, aber kultig. Der hätte das eventuell kapiert mit der wild wild side of life (vgl. Beitrag 280).

An der Kasse hieß es, ich sei zur rechten Zeit gekommen, in einer dreiviertel Stunde könne ich live beobachten, wie der “Genter Altar” geschlossen würde. Nun muß man berücksichtigen, daß ich Kunsthistorikerin bin und der Genter Alter als so etwas wie der Heilige Gral des Faches betrachtet wird. Aufwendige Feinmalerei, metaphorisch erhöht, kurz gefaßt, gestaltet von den Brüdern van Eyck im 15. Jahrhundert. Mini-Exkurs: Altäre bestanden aus mehreren Flügeln, dekoriert mit Bildtafeln. Schlichte für außen, die im Alltag zu sehen waren; aufwendige, bunte innen, die man nur zu Sonn- oder aber gar Festtagen wie Ostern zu Gesicht bekam, und die eigens dafür ausgeklappt wurden. Heutzutage in Museen zeigen sie immer die prächtigen Innentafeln, welch ein Luxus. Ich stellte mir jedenfalls vor, wie ein Angestellter den Nebenraum hinter dem Kirchen-Chor betreten würde, auf eine Leiter steigen und mit einer Art Holzlanze Flügelteil für Flügelteil zudrücken in festlicher, zeremonialer Stimmung. Ja. Ein Angestellter kam fürwahr, endlich. Das einzige, was er drückte, war ein Knopf an einer PC-Steuerung, alles andere geschah automatisiert durch die Maschine. Und dafür hatte ich dreißig Minuten ausgeharrt in einem ansonsen öden Raum. Ich glaube, die Menschen früher haben das klüger gelöst.

Ich lehnte an einer von der Sonne noch aufgewärmten Wand und verschlang gierig die Pommes, es war etwa 22.30 Uhr. Ich war unter Tausenden allein, welch stupide Idee, ohne Begleitung ein Festival zu besuchen. Die Musiker indes hatten sich gelohnt, Alexis Ffrench (sic!), The Bony King of Nowhere und freilich, ganz ohne Zweifel, Asaf Avidan. Die Leute waren fröhlich, gelöst, das Gelände stimmungsvoll (die Bijlokesite). Backstein, Wiesen, der Goldfischteich, riesen Eventzelte, das Kloster. Ich hasse Pommes, hatte aber ewig nichts gegessen und entsprechend Hunger. Auch sollten die Biere ein wenig Grundlage kriegen im Nachhinein – offen gestanden, ich trinke zu viel Alkohol seit Monaten. Ich hatte Neues kennengelernt – daß mir Jazz tatsächlich gefallen könnte… -, und Klavierstücken gelauscht, die die Ehre hatten, während der Krönung des britischen König Charles zu erklingen; und ich hatte ihn erlebt, wirklich erlebt, den Asaf Avidan meiner CDs und des Fernseh-Mitschnitts auf Arte Concert… Aber dieser Asaf Avidan jetzt war zu meinem grenzenlosen Bedauern Entertainer gewesen, Showmaster auf einer Bühne, Lustiges gab er von sich, Heiteres, Frivoles, alles schön und gut. Nur: wo war der Mann geblieben von Sweet Babylon, von Oh Mama can´t You see I´ve got this darkness shine through me? Und genau dies fragte ich später “Gent Jazz” per Mail, aber selbstverständlich erhielt ich keine Antwort. Ich erhalte nie Antwort, selten.

Wißt ihr, was meine Schwester in fetten Lettern auf dem unteren Rücken tätowiert gehabt hatte? – ANTWORTET MIR —

Ist das nicht traurig?

Die Substanz der Stadt an sich war schön, Gotik, Barock, herrliche Wasserburgen, Kirchen, Verwaltungsgebäude, Flußhafenabschnitte, aber alles war verseucht von billigster Massenware, von Plunder und Plastikreklame, ich würde sagen: unrettbar, da konnte auch das spontan wahrgenommene Orgelkonzert nicht gegensteuern; deshalb flüchtete ich nach Brügge.

 

Brügge war wie Venedig hoffnungslos überlaufen im Zentrum, ein phänomenaler Ansturm. Man ertrank förmlich in Leuten, und sorgte selbst mit seiner Anwesenheit dafür, daß es anderen genauso ging. Deutsche Schulklassen noch und nöcher! Ein Junge im Kahn der Flußrundfahrt neben mir versank vor Leid – ja, er sank gegen seinen Sitznachbarn und Kumpel, schmachtend in sich zusammensackend -, weil er ein Mädchen im Nebenboot ungehört anbetete, eine ausgesuchte Schönheit mit ellenlangen hellblonden geflochtenen Zöpfen, ich verstand ihn sehr gut. Armer Tropf, unerwidert! Und doch… Glaubte ich einfach nicht, daß das existieren konnte, Liebe. In meinem Leben gab und gibt es keine Liebe.

Der ehemalige Krankenhauskomplex eines gotischen Klosters verfing mit Charme und Zauber. Backstein, Türmchen, lebendig blühende, duftende Kräuterbeete, Durchgänge und verwinkelte Gassen, Zutaten nostalgischer Romantik (aus heutiger Sicht freilich). Ich stolperte zufällig über die älteste erhaltene (nicht länger betriebene) Apotheke Europas (inzwischen habe ich gelesen, daß auch Rom sich mit dieser Behauptung schmückt), ehrfurchtsvoll die riesigen  Metallmörser und Glasphiolen bestaunend, die dunklen, massiven Tische, Stühle, Regale, Tresen, wuchtig, gewichtig, irgendwie kompetent und vertrauensvoll. Da wird geholfen! Wurde. Ein Ort, in welchem einst Verzweiflung und Hoffnung, Leid und Linderung aufeinandertrafen.

Das sich anschließende Kirchenschiff hatte die Krankenlager beherbergt, es waren Konstruktionen eingezogen gewesen, die quasi kojenartige Betträume bildeten, in Reih und Glied geordnet. Die Ausstellung an sich war recht modern, an einer Stelle konnte man per Zeigefingerabdruck seinen Puls messen und grafisch speichern lassen, ein “Gästebuch” der besonderen Art. Bei der ersten Messung lief offenkundig etwas schief, mein Ruhepuls lag bei 52, weshalb ich es erneut probierte. Das zweite Ergebnis belief sich auf 53. Hä?? Ich habe mich vor über drei Jahren aus dem aktiven Freizeitsport zurückgezogen und verfüge immer noch über eine niedrige Pulsrate? Na, jedenfalls definitiv bestimmt nicht, wenn ich meine Rumpelstilzchen- und HB-Männchen-Momente habe: Ja, wer wird denn da gleich in die Luft gehen? Da bin ich bei den sprichwörtlichen 180.

 Im Obergeschoß jener zum Krankenhaus umfunktionierten Kirche (übrigens freilich ebenso wenig noch in Verwendung wie die Apotheke nebenan) hatte man eine Sonderausstellung eingerichtet. Man erhielt nur einen diffusen Blick auf die hohen, rohen, gigantischen Schrägbalken des Dachstuhls, denn der erste Saal war völlig abgedunkelt abgesehen von einigen rötlich-warmen Spots, die drei Szenen beleuchteten. Eiszeitliche lebensgroße, aus Pappmasché gearbeitete Höhlenbewohner beim gemeinsamen Kochen, auf der Bärenjagd (witzigerweise unter Verwendung eines ausgestopften asiatischen Kragenbären), während eines schamanischen Rituals inklusive Felsmalerei. Der nächste Raum lag besser ausgeleuchtet und zeigte in altmodischen Vitrinen allerlei Artefakte; historischer Buchdruck, der lexikalische Artikel enthielt über Dodos; Fotografien in Schwarz-Weiß, die einen Beutelwolf zeigten; eine Mammutkalbmumie. Ja, wahrhaftig! Ein mumifiziertes, verschrumpeltes, gekrümmt daliegendes junges Mammut, bestimmt erst wenige Tage alt (vermutlich auch aus Pappmachée). Ein britischer Privatsammler, der sich dem Thema ausgestorbener Spezies verschrieben hat, stellte das Material bereit. Da meine Schwester auf Kryptozoologie versessen gewesen war, kam mir all das äußerst vertraut vor. Und hegen wir alle nicht insgeheim die Sehnsucht, eine verschollene Art möge wiederentdeckt und gerettet werden, so wie bei den Przewalskipferden geschehen und in geschummelter Form mit Ur und Wisent? Mein 16jähriges Ich würde in Jubelschreie verfallen, könnte man die Goldkröten zurückholen (die es noch gab, als sechzehn war, zumindest behaupteten dies damals die Greenpeace-Magazine; Wikipedia nun sagt, die letzte Sichtung sei 1989 gewesen), oder gar erst die Flores-Menschen, eine hominide Zwergform von einem Meter, die bis vor 18.000 Jahren auf Indonesien gelebt hatte. Eine lächerlich kurze Zeitspanne erdgeschichtlich! Und trotzdem fern wie ein Märchen… (Ich recherchiere nach; nun erfahre ich, daß es sich wohl um eine Fehldatierung gehandelt hat und die korrekte Zahl mittlerweile mit 60.000 Jahren angegeben wird.)

Das letzte und dritte war eher ein schmales Zimmer, in dem sich nichts befand als eine Leinwand, auf welche ein Film projeziert wurde, dessen Anfang ich zufällig erwischte, sonst hätte ich ihn mir gewiß nicht angeschaut. Welch ein Glück! Ich war alleine. Gänsehaut lief mir über den Körper. Von der Machart her erinnerte er an die Kurzbeiträge, die ich vor fast zwei Dekaden in einem Seminar über Visuelle Anthropologie zu analysieren hatte, etwa eine Viertelstunde lang, eine Mischung aus sachlichem Inhalt und kreativer Regie (denn objektive Filme über andere Kulturen kann es nicht geben, spielt stets der eigene Wissenstand und die eigene kulturelle Ausformung mit hinein; so entscheidet man sich dann bei solchen Reportagen oft gezielt für das künstlerisch-individuelle der Ausführung, um klarzustellen, daß man sich einer zwangsläufigen Einschränkung hinsichlich der Objektitivtät bewußt ist).

Also, ich saß in dem finsteren kleinen Raum, in welchem die im Verhältnis dazu mächtig imposante Leinwand volle Wirkung entfalten konnte. Es wechselten sich stets zwei Bild- und Tonsequenzen ab. Zum einen dichter, grüner Regenwald mit Zikadenraunen und Vogelklängen. Zum anderen ein megalomanes technisches Gerät mit einem drückenden, lauten Rauschen, von dem es hieß, es sei eine Aufnahme der Weltraumstille. So nun klingt das Universum! Untertitel erzählten in der Manier indianischer Volksweisen, daß es kein Wesen auf der Erde gebe, daß über eine dem Menschen derart ähnliche Kommunikationsart verfüge wie Papageien; daß der Mensch nach Kontakt zum All strebe und keine Mühen spare, um mit noch nicht entdeckten Lebensformen zu interagieren, während hier in den Wäldern unseres Heimatplaneten Tiere zum Aussterben verdammt sind, mit denen wir verbal die Artgrenze überschreiten könnten.

Der Film berichtete auch: ein grauer Versuchspapagei, an dem man jahrzehntelang forschte, verstarb unerwartet. Am Abend vor seinem Tod sagte er zu seiner Pflegerin und Trainerin: “ You be (sic!) good. I love You.” — Da weinte ich im finsteren Vorführsaal, und ich weine jetzt bei strahlendem Sonnenschein, wie ich mich daran erinnere, gebadet in Spatzengezeter und Starenrumor, in August-Chlorophyll und spätsommerliche Blütenpracht.

Daß man gut sei und daß man geliebt werde – ist es nicht das, was wir hören wollen?

Und ich spürte, daß ich dafür nach Belgien gereist war; für diese kleinen, unerwarteten Entdeckungen und Rückkoppelungen und Gefühlsaufwallungen und Bilder, die sich auf ewig einbrennen: ein Jesusjüngling in lila Samt und Seehundfell… Und Lavendel-Creme Brulée, und live Klavier und die Bestätigung, daß es mehr gibt, mehr als man sich selbst in seinem kleinen Kopf vorstellen kann, wenn man sich in seinen Status Quo einnistet.

 

 

Illustration zeigt eine Nebenstraße in Brügge

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