280 Lebensmitte

280 Lebensmitte

München, August 2024.

 

Wer bin ich geworden und wer will ich im Weiteren sein?

Es war während der Fahrt nach Pasing, wo ich mit einer früheren Studienfreundin verabredet war, als ich nach einiger Radio-Zapperei auf SWR1 verweilte, weil mir eine Stimme so angenehm sanft ins Ohr drang. Weiblich zart und voll zugleich, gelassen, in Pausen rhythmisierend, deren Stille gehaltvoll war, ein gemächlicher Schweizer Dialekt. Ich war inmitten eines Interviews mit der Philosophin Barbara Bleisch gelandet, die jüngst ein Buch herausgebracht hat, in welchem sie sich mit der “Mitte des Lebens” beschäftigt. Wer bin ich geworden, und wer will ich im Weiteren sein? Unaufgeregt und klar stellt sie Fragen, in denen ich mich nur zu gut wiederfinde.

Ich hatte, offen gestanden, Philosophie bis dahin für dröge, abgehoben, sezierend, haarspaltend, sogar ein wenig lästig gehalten, und bekam nun vorgeführt, daß ich bereits eine Art philosophischer Monologe praktiziere, seit ich mit siebzehn Jahren meine Gedankennotizen begonnen habe, 17 DIN A4 Kladden füllend, die 18. zur Hälfte beschrieben. Daß zur Philosophie auch scheinbar lapidare Überlegungen gehören; daß sie Distanz schafft zum Überschwang der Gefühle und inneren Gespräche, zum Lärm da draußen. Jedenfalls, um es abzukürzen: es tat gut, dieses kleine Stück Radio, dessen Lektüretip ich umgehend beherzigte (im Buchladen eine Stunde später mußte die Angestellte eine Weile danach suchen, wir fanden es schließlich einsortiert in die Rubrik “Better Aging”, aha).

Als ich die vom Schneider gekürzte Jacke aus dem Leder einer Schiege (Mischung aus Schaf und Ziege) zum in der Tiefgarage abgestellten Auto brachte – in der Tasche ein brandneues Exemplar der “Mitte des Lebens” – und mein Makeup für das Treffen mit meiner Freundin gleich im Rückspiegel richtete, sah ich an der Windschutzscheibe eine einzelne Rose klemmen, die Blütenblätter orangerot in gelben Spitzen auslaufend. Ich war verdutzt; freute mich. Keiner der anderen Wagen hatte eine Blume staken. Ich stieg aus, die Rose näher betrachtend. Sofort setzte sich in meinem Kopf eine Sequenz zusammen: irgendjemand hatte sie als Geschenk erhalten, vielleicht abends zuvor, ein junger Mensch beim Ausgehen. Von einem hoffnungsvollen Interessenten schnell gekauft, übergeben und als Annäherungsversuch leider erfolglos geblieben, war sie achtlos weggeworfen worden. Oder aber sie war beim Knutschen verloren gegangen, dann wäre sie doch eine gelungene Investition gewesen. Nun denn, ein anderer, sicherlich eine Frau, hat sie am Boden entdeckt und sich aus Mitleid ihrer erbarmt. An der Windschutzscheibe erfüllt sie noch ein Quäntchen Würde und Sinn. Und weshalb an meinem Auto und nicht an einem der anderen Hunderten? Auf der Heckklappe des roten Kombis klebt eine weiße Folie, die einen comicartigen, heiteren Chihuahua zeigt (einst angebracht, als das Hündchen noch lebte), putzig-heiter. Dorthin paßt ein Blumengruß.

Es hat mich trotzdem aufgemuntert. So ziemlich die einzige Blumengeste überhaupt, die mir zuteil wurde in meinem Leben abgesehen von obligatorischen sowie wenig kreativen Geburtstagsbouquets (auf welche ich auch noch ausdrücklich bestehen muß, sonst bleibt es bei Primeln, Primeln in Rot, Gelb, Violett, Primeln, die nach zwei Tagen zu welken beginnen, weil sie nicht für Zimmerluft geeignet sind, Primeln wie für alte Weiber). Nein. Im Oman 2011, da fand ich einmal ein gezupftes Bergblümlein vor, pink, als ich im Hotelzimmer eine Tüte leerte, die ich tagsüber im Jeep aufbewahrt hatte. Einer der drei einheimischen Guides hatte es mir heimlich zugesteckt und ich mich hernach bedankt dafür am mondbeschienenen Kieselstrand (vgl. Beitrag XX); so schwappte der Oman ins Pasinger Parkhaus herüber für ein, zwei Minuten.

Ich aß eine Kugel Eis, Zitrone-Basilikum, köstlich. Meine Freundin erzählte mir, tags zuvor sei ein Biber aus dem urbanen Kanal über den Weg gelaufen, beinahe über ihre Füße huschend. Sie habe sogar Zeit gehabt, ein kleines Video zu drehen von der unvermuteten Begegnung im winzigen Stadtteilpark. “Das ist mir noch nie passiert!” rief ich aus, sowohl freudig, als auch ein bißchen neidisch. Im Gegenzug berichtete ich von der Rose unter meinem Scheibenwischer. “Das ist mir noch nie passiert!” stieß meine Freundin hervor. Wir lachten.

Die Lektüre an der “Mitte des Lebens” ist längst abgeschlossen. Ich frage mich, ob das reicht. Ob eine Schiegen-Lederjacke, eine Radioinspiration, ein zufälliger anonymer Blumengruß und Zitronen-Basilikumeis, ob das reicht für seine persönliche “Philosophie der besten Jahre” (so der Untertitel des Bleisch´schen Buches). Mich ergreift allmählich Panik. War es das schon? War das alles? Plätschert und dümpelt weiter, bis man unleugbar alt geworden ist, zu alt für das meiste?

Chris Norman, dieses Urgestein aus längst vergangener Ära, singt von der wild wild side of life. Er singt, genauer gesagt: Now You may think You can walk on the wild wild side with me/ But there´s a lot I can learn, and a lot  I´ve yet to see.

Es bringt etwas zum Klingen in mir, ein schmerzhaftes Verlangen, unbändiges Sehnen, dieses auf der wilden Seite des Lebens Gehen, diese Aufforderung, es sich nicht einzurichten im Status Quo, sondern dem Ruf zu folgen, der tatsächlich ein Ruf der Wildnis ist, wo das Ungezähmte in einem lockt. In meinem Umfeld geht es um Grillabende, Hochbeete, Fußball, um Urlaube in Südtirol, Menorca, im Bayerischen Wald.

 

Ich wollte doch noch – eigentlich wollte ich noch… Ich wollte:

Schnorcheln mit Orcas in Norwegen und Schwimmen mit Blauwalen auf Tonga, den Tauchschein machen auf Wakatobi. Ich wollte zum Quallensee nach Palau, durchs Ruwenzori- und Virungagebirge trekken zu den Nebelpflanzen und Grorillas; ich wollte per Mietwagen die Künstlerdörfer der Cote d´Azur abklappern, zu den Sumpfzypressen der amerikanischen Südstaaten, die Webstühle des echten Tweeds auf Harris und Lewis arbeiten sehen, an den Gletschern Ostgrönlands vorbeiwandern. Ich wollte in den Tropenwald Gabuns, durch die Baja California zu den Riesenkakteen und die Dschungelflüsse Surinames erkunden. Zu den Buntbarschen des Malawisees wollte ich und zu den Komodo-Waranen. Wollte die versunkenen Tempel Kambodschas besichtigen und Yoga machen in Indien. Ich wollte Pilgern auf Japan, überhaupt Japan, alles in und an und von Japan selbst erleben. Es ließe sich fortführen, aber das Prinzip ist klar.

Stattdessen kuschle ich mit Hund und Hühnern, streichle Maulwürfe, Heupferdchen, Libellen, Wasserfrösche, Amseln (einfach alles, was mir zwischen die Finger kommt), shoppe Lederjacken, esse Eis mit Basilikumnote, putze, hocke am Computer.

Es ist nicht einzig die wilde Seite des Lebens, die ich vermisse; ich bin frustriert, gründlich frustriert darüber, daß es bisher nie jemandem gegeben hat – weder Mann, noch Frau -, der das verstanden hat, der begreift, was das sein soll, to walk on the wild wild side of life.

Es erinnert mich an ein Bonmot Simone de Beauvoirs, das ich frei zitiere: “Eine Frau, die nichts fordert, wird beim Wort genommen. Sie erhält nichts.”

Muß man, eintretend in die Mitte des Lebens, mehr bzw. anderes fordern, wenn man dem Gefühl entgegenwirken möchte, in der Endhaltestelle Belanglosigkeit angelangt zu sein?

Ich spüre, daß ich die Hyänen Harars sehr wahrscheinlich nie wieder sehen werde (vgl. Beitrag XX). Aber ich hatte ihre Pfoten auf meinen Schultern ruhen. Ich bin mehr als die Dorftrutsche, zu der ich gerade verkommen bin, weil man sich wohl zwangsläufig angleicht an seine Umwelt. Ich bin mehr, weil ich von mir selbst erwarte und fordere, mehr zu sein. Übrigens nicht besser, wenn man das mißverstanden haben sollte, aber hungriger, hungriger auf die Welt!

 

Der Maulwurf reckte mir sein rosarotes, langgezogenes Schnäuzlein entgegen, aufgeregt damit in raschen Zuckungen schnuppernd, wer ihm da über den samtig-schwarzen Rücken strich. Seine großen nackten Pfoten mit den langen Krallen scharrten langsam-hilflos über den festgebackenen Schotter des sonnigen Waldweges. Ich hob das Kerlchen mit den drolligen Proportionen, dem ulkigen Kugelbäuchchen, an, es behutsam in ein schattig-feuchtes Gras-Kräuter-stück platzierend. “Paß auf dich auf!” sagte ich ihm zum Abschied. “Ich wünsch´ dir alles, alles Gute!” Doch, das sprach ich laut und deutlich und aufrichtig aus.

Keine Hyäne und auch kein Wal, bloß ein Tier, daß anderswo für Ärger und Mißfallen sorgt und als Schädling betrachtet wird; es war mir eine Wonne. Mein erster lebender Maulwurf in natura. — Ich fordere nicht viel, finde ich. Aber ich fordere meinen Teil von der wilden Seite des Lebens. Egal, wieweit ich nachgebe, einknicke, resigniere, einlenke, jetzt und später noch, es wird dieser Funken Ungestümheit, Roheit, Wildnis in mir verbleiben.

 

Da nippt man auch einmal an einem stinknormalen Wochentag 16.30 Uhr an einem geerbten Kristallgläschen Veuve Cliquot Brut, sich zum hundertsten Mal fragend, wie die Großmutter – Putzfrau bei der Deutschen Bahn – auf die Idee kommen konnte, sich drei verschiedene Varianten Schaumweinflöten für je sechs Personen anzuschaffen (ja, genau: 18 edle, fein geschliffene Sektgläser, aber mit mir zusammen hat sie nie einen getrunken).

Na, Oma, Prost dir! Vielleicht war das deine Rebellion, dein Aufbegehren, dein Das kann es doch nicht schon gewesen sein.

 

Wer bin ich geworden – wer denn eigentlich?

Und wer will ich im Weiteren sein? … Ich weiß es einfach nicht. – Könntest du es für dich beantworten?

 

Hallo? Liest das noch irgendwer nach der langen destruktiven Pause?

Hallo.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert