279, Teil IV: Fische und Gingkos
Japan, Oktober 2023.
Keine Abenteuer, keine Dramen. Dafür Wohlbefinden, leise, jeden Winkel ausfüllende Zufriedenheit, unscheinbares Glück.
Wer als Bauträger für Grün in der Megacity Tokyo sorgt, darf steuerfrei höhergeschossig planen; Innenhöfe voll gestaffelter Miniaturwälder, plätschernd-glucksende Kanäle entlang der Gehsteige, von Fassaden herabrankende Schlinggewächse, Lichterketten im Alleebaumgeäst, die abends in der warmen Milde goldensanft leuchten und mit dem Zirpen der Zikaden und Grillen sich vermengen. Wer bescheidener wohnt, vielleicht traditionell niedrig in Holz, stellt Dutzende von Töpfen auf, in denen Blumen blühen und Kräuter gedeihen. An jeder Ecke, oft ein wenig versteckt, Areale mit Tempelschreinen, wo man darauf achten muß, nicht versehentlich auf dem Asphaltboden eine dicke Kröte zu zertreten – inmitten der Millionenmetropole, die berüchtigt ist für überfüllte Hektik. Statt eines Kulturschocks empfängt mich heimelige Gemütlichkeit. Die Leute sind entspannt, trinken Wein in romantisch illuminierten Straßenlokalen, die Luft streichelt einen mediterran (und das mitten in Asien).
Nachts stehe ich im Dunkeln an der gläsernen Fensterfront meines Hotelzimmers; rot und gelb und blau und weiß punktet es auf, Schlieren reflektierender Streifen, Rechtecke, Pixel, Ahnungen, sich auflösend, dann auf krasse Konturen treffend – die Großstadt als Laterna Magica; der Martinstag der Kindheit mit seinen Teekerzen hinter buntem Seidenpapier wird zur Erwachsenenversion der Realität. Wir Menschen sind wundersame Wesen, was wir erschaffen, so abstrakt und gigantisch, völlig naturfremd und doch, auf seine Art, wunderschön. Ich stehe lange vor dieser gläsernen Fensterfront, ein schemenhaftes, vages Fantom in der Scheibe.
Das Gepäck ist verstaut, ich habe mir extra etwas mehr Zeit einberaumt, um ein letztes Mal bei den Fischen zu sein. Gegen japanischer Sitte hatte ich meinem Butler Trinkgeld an der Rezeption hinterlassen; in diesem Ryokan in Takayama, wo ich auf Futon in einem mit Tatamimatten und Shojitüren ausgestatteten Zimmer geschlafen hatte, wurde jedem Gast ein eigener Butler zugewiesen, der einem die Mahlzeiten servierte und sich um sämtliche Belange während des Aufenthaltes kümmerte, traditionelles Gewand tragend und perfekt-höfliche Gastfreundschaft demonstrierend. Mein Butler war jung und attraktiv, beflissen. Um die Anlage des Ryokan herum gab es einen mit Bonsai und Azaleen bewachsenen, bilderbuchmäßig gepflegten, märchenhaften Steingarten, an den sich direkt zum Gebäude hin ein Wasserbecken mit Koi anschloß, die munter um das Entree herumschwammen, prächtig genährt, fett und glänzend, gesund wie man sie bei uns nie zu Gesicht bekommt. Über dem Bambusgitter lehne ich, die letzten Minuten an diesem Ort verbringend, auf das blinkende Naß hinabkuckend, in dem die karotten-, melonen-, pfirsich-, sepiafarbenen Leiber sich huschend winden, einander neckend, Bahnen ziehend, kreiselnd, davonschießend, gelegentlich den Kopf reckend, o-förmig die Backen blähend atmend, auf Leckerchen wartend oder darauf, daß sich etwas ereignet. Ich sehe den Butler durch die moderne Tür treten, auf mich zueilen, sich verbeugend; als er bei mir angelangt ist, bedankt er sich für die kleine (in Japan eher unübliche) finanzielle Geste. Er erkundigt sich nach dem Gepäck; daß es bereits im Bus Platz gefunden habe, er solle sich nicht sorgen. Er stockt kurz, überlegend, ob seine Neugier – die dann doch siegt – ungebürlich sei; was ich denn täte. Ich lächle. Auf Englisch antworte ich wahrheitsgemäß: “Ich sage den Fischen Lebewohl.” Er stutzt. Ein Strahlen erhellt seine Züge, von den Mundwinkeln bis hin zu den Augen. Es waren eigentlich nur Fische, Dekoration, nette Zutat einer gefälligen Atmosphäre, es war nur ein Bambusgitter, ein winziger Garten, und nichts davon ist die Aufmerksamkeit heute wert, und doch schreibe ich es, erzähle: Destillat meines Aufenthaltes, Destillat dessen, was ich suche, unterwegs, im Alltag. Verbundenheit, Einssein mit sich und dem Drumherum und mit Wesen, die normalerweise getrennt existieren.
Koikarpfen, ein Butler, die rustikale Kleinstadt in den Bergen, wo Fledermäuse über die Ampelanlagen sausen ab dem ersten Dämmer und neben einem Pagodenschrein ein Gingkobaum wächst, der mehr als eintausend Jahre zählt, in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof. Eintausend Jahre, eintausend Leben, eintausend Gedanken. Seine muschelherzrunden Blätter waren hellgrün gewesen. Mein Gingko, meine Fledermäuse, meine kupferorangen Fische, meine Tempelschreine, mein Stadtkern aus dem 16. Jahrhundert, meine Design-Stuhl-Ausstellung, mein von Pflanzendickichten gesäumtes, bunt-vitales Flußufer, meine Gärtnerei, meine blutroten Ahorne, meine eiskalten Füße (in den Räumen dürfen Schuhe nicht getragen werden), mein Lustwandeln und Sinnieren, mein Holzzuberbad in bitter schmeckendem, heißen Termalquellwasser, meine über Reisfeldern schwebenden Libellen. Ich war dort gewesen – wer auch immer es sein mag, dieses Ich, und ich war angekommen und friedlich. “I say Goodbye to the Koi.” Nach der allerersten Überraschung freute er sich. Ich wußte, er hatte mich verstanden. Warum bleiben es stets die Fremden, denen ich nie wieder begegnen werde, die begreifen?
Radeln durch Kyoto. Die Brise der Fahrt ist eine Reihe überschwenglicher Küsse. Tempelanlagen, feinfühligste Tuschemalerei, ein Teeschalenmuseum, blendendes, in Sonnenlicht gleißendes Gold, schwarz verwitterte Hölzer. Radeln durch Kyoto, frei und heiter. Die Schaufenster spiegeln eine fröhlich-vergnügte Frau – wer ist denn das? Junge Paare in Booten, herausgeputzte Schoßhunde, in schillernde Kimonos gewandete Brautleute. Riesenbambushaine, gerechte Kiesgärten. Ruhe, Beschaulichkeit, Anmut, ausgesuchte Höflichkeit: Japaner müßte man sein.
Das winzige hellgrau lederne Portemonnaie mit Platinblattgoldbeschichtung kaufe ich nur, weil meine Führerin durch Kanazawa ausgeplaudert hatte, daß sie kurz zuvor Sigourny Weaver exakt in jenem Laden eine Kette habe erstehen sehen. Sigourny Weaver war die Lieblingsschauspielerin meiner Schwester gewesen. Die Börse kommt bei Konzerten zum Einsatz, sie paßt als einziges in die schmale Abendtasche, die ich zu solchen Anlässen mitnehme. Nun ist Japan – oder auch Sigourny Weaver – gelegentlich zu Besuch in der Isarphilharmonie.
Die Erinnerungen sind wie ein Aufschlagen auf dem Pflasterstein. Ausgelassenes Mädchen, das auf einem Roller dahinpest, strauchelt und sich jä das Knie blutig stößt. Ich weiß, das Leben besteht nicht nur aus saftig weichem Moos unter den Fingerkuppen, aus Betrachtungen herrlichster Landschaften und Annehmlichkeiten. Aus seidig glänzenden Tagesdecken und Lotusblumen, tausenden orangerot gestrichenen Tori-Toren in Bergwäldern, aus Lachen und Eintracht und seelisch-intellektueller Tiefe, Schauern der Erhabenheit. Aus Glücksmünzen.