278 Einer der letzten Beiträge

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Dieses Objekt können Sie erwerben; letztes Jahr waren dafür etwa 1,8 Millionen Euro veranschlagt. Es ist mittlerweile richtig fesch geworden ohne die Kanister mit geheimnisvollen, auslaufenden Substanzen darin, ohne die sich stapelnden, vom Regen verfaulenden Bürostühle, Waschmaschinen, Gefrierschränke, kennzeichenfreien Autos. Sogar die Flaschen und Turnschuhe vom Dach sind verschwunden. Potential, absolut. Ruhig ist es auch geworden, keine 20-Stunden-Disco-Beats mehr, kein Geschrei, keine Prügeleien oder Polizeieinsätze. Aus dem Kamin qualmt nicht länger Übelkeit verursachendes Plastik, und ganze Schweine am Spieß werden höchstens alle drei Monate noch gegrillt. Ordnungsgemäß wurde die Hecke zurückgeschnitten.

Dieses Haus ist ein Quell tagtäglicher Freude. Ich muß es wissen. Ich kucke da ja drauf. Beim Kochen und beim Abspülen. Oder einfach jedes Mal, wenn ich selbst mein Heim verlasse zum Einkaufen, Gassi gehen. Es gibt einige solcher Häuser bei uns im Dorf; dieses hier ist mir etwas besonderes. Denn es ist mein Ausblick, meine Gegenwart und meine Zukunft.

Es ist ein Sinnbild für mein Leben.

Und jetzt bin ich besiegt.

Ich kann nicht mehr.

Diese Leute ertragen, von denen etwa jeder achte grüßt, die anderen glotzen mit dummer Fresse zurück, wenn man sich traut, der jahrhundertealten Tradition auf dem Land zu folgen und Hallo zu sagen. Manchmal, wenn ein Kind zuerst grüßt, vielleicht noch fröhlich, erschrecke ich mich. Huch! Was war denn das?

Mir fällt auf: bei sich anhäufenden Konflikten, zu denen grundsätzlich zwei Parteien gehören, bin ich es, die sich entschuldigt. Für das Gegenüber ist es selbstverständlich. Ich entschuldige mich aus Prinzip, weil es aus der Mode ist und ich ja generell gegen den Strom schwimme. Damit ist es moralisch gesehen keine Entschuldigung, und ich bin auch nicht besser als diejenigen, über die ich mich beklage.

Nein, es wird kein Gesellschaftsmotzen nun.

Ich wollte nur anreißen, weshalb ich quittiere.

Es wird keine Reisen mehr geben und damit auch kein Fotografieren (schade um die neue Fuji). Kein öffentliches Schreiben.

Philip Morris GmbH wirbt ganzseitig in Hochglanzmagazinen mit der Behauptung, 43% der Raucher glaubten irrtümlicherweise, Rauchen könne Krebs verursachen, dabei sei das längst von einer chinesischen Studie widerlegt. Wem ich davon erzähle, zuckt mit der Schulter. Nur daß wir uns nicht mißverstehen: es solle rauchen, wer mag. Bitte sehr. Aber daß jetzt wirklich jeder Fakt zu einer Lüge verkehrt wird, wenn genügend Geld dahintersteckt, daß die Kühe nun eben definitiv lilafarben sind und 1 plus 1 gleich 3 ergibt, und alle sind einverstanden und befeuern diese neuen Wahrheiten (die nächste Woche schon wieder anders lauten können), nein, da komme ich nicht mit, intellektuell nicht, aber insbesondere emotional.

Nach Virginias Moralpredigt in Japans Shinkansen bin ich schließlich auf meine Meisterin gestoßen. Alice Munros „Tanz der seligen Geister“, meine Güte, endlich Literatur… Sie hat mich damit an eine kleine Projektidee erinnert, die ich nun – da das Reisen, Fotografieren und selbst Schreiben passé sind – gerne angehen möchte. Von jedem Nobelpreisträger mindestens ein Werk lesen; und von jedem japanischen, ins Deutsche übersetzten Autor mindestens ein Werk lesen. Damit bin ich eine Weile beschäftigt, denn irgendetwas muß man ja tun.

Die Gartenarbeit quittiere ich auch: jährlich etwa zwei- bis dreitausend Euro investieren in Pflanzen, Samen, Bäume, Sträucher, Erden, Dünger, Geräte, Beete und Stunden und Aberstunden an Zeit, und niemand sieht es. Entweder, weil keiner durch den Garten geht; oder weil die wenigen diejenigen, die es tun, blind sind.

Dieses Haus über der Straße, kuckt es euch genau an; es gibt schlimmeres. Wellblech ohne fließend Wasser und Strom etwa und Gegenden, in denen man nicht nach Einbruch der Dunkelheit nach draußen sollte, wolle man sich nicht einer Gewalt aussetzen; und Gegenden, wo die Leute barfuß über Berggeröll laufen müssen und bei Schneefall die Kinder nichts tragen als Gummistiefel, nicht einmal Socken. Ich weiß das, denn ich habe es selbst vor Ort erlebt. Es gibt schlimmeres! Etwa die Bestellung einer Minestrone aufnehmen im Café und ein paar Minuten später einfach tot umfallen. Solche Sachen.

Dieses Haus von gegenüber; das bin ich geworden. Es hat mich geduldig und still schweigend verschlungen, zermürbt. Dieses Haus ist die lila Kuh und das hinterfotzige, selbstgefällige Dorfvolk und die aufgespritzte Instagramfrau, die bewundert wird dafür, daß sie ihr Hotelessen postet.

Ich danke Virginia, daß sie mir die Augen geöffnet hat und Alice Munro, daß sie mir zeigt, was wahre Schriftstellerei ist.

Ich werde demnächst noch ein paar Japantexte einpflegen und vielleicht etwas aus England, damit es einen schönen, versöhnlichen Abschluß findet, was ich hier immerhin sechs Jahre lang betrieben habe.

Ich durfte eineinhalb Dekaden lang reisen. (Genauso lange ist der Tod meiner Schwester her.) Ich durfte mein Hirn vergrößern und die Seele weiten und das Herz auch. Ich bin für jedes einzelne Erlebnis, für jede Szene, Begegnung, Wanderung dankbar.

Ihr habt gewonnen. Ich erkenne es nüchtern, ohne Gram, Zorn, Schärfe, an. Ihr habt gewonnen. Ihr seid dieses Haus von gegenüber.

Wir alle sind das Haus von gegenüber, die Hecke vorschriftsmäßig beschnitten. Ich kann jetzt ganz leicht mit dem Kombi rückwärts aus meiner Einfahrt ausparken.

 

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