277, Teil III (Fortsetzung von 264): Ein Geschenk
Japan, Oktober 2023.
Es war, wie so oft in Japan, ein kleines Lokal, puppig, schlicht, warm gestaltet und erdend. Die Architekturtour des Tages war beendet, ich hatte stille Raffinesse und bauliche Innovation kennenlernen dürfen, kuratiert und erläutert von einer enthusiastischen jungen Führerin; eines Trinkgeldes statt hatte ich ihr vorgeschlagen, sie zu einem Sake einzuladen, was sie – nach telefonischer Absprache mit ihrem Mann – freudig annahm. Sie lasse sich gerade zur Sake Sommelieuse ausbilden und wolle mich gerne mit ihrem Lehrer bekannt machen, zugleich Inhaber einer geschätzten Sakegaststätte – welch rare Gelegenheit, unverhofft tiefer in die authentische Kultur des Landes einzutauchen, ich war Feuer und Flamme!
Ich verbeugte mich artig mit gefalteten Händen (ich liebe diese Art, sich zu begrüßen, so elegant und respektvoll), als wir zu einem Platz gewiesen wurden. Der Chef kam an den Tisch, Hal übernahm das Dolmetschen; übliche Small Talk Fragen und Erkundigung nach den Getränkewünschen. Daß ich nie zuvor Reisschnaps probiert habe; und daß es mir eine Ehre wäre, mich überraschen zu lassen vom Meister persönlich. Daß es nicht schlimm sei, wenn die dazu gereichten Snacks Hühnerbrühe enthielten, ich würde trotzdem davon kosten.
Insgesamt drei verschiedene Sake wurden uns kredenzt, jeweils auch präsentiert mit der dazugehörigen, großen Flasche und der Erläuterung ihrer Herkunft (bei “Fukushima” mußte ich ein wenig schlucken, doch blieb ich tapfer….). Ich besah mir die unleserlichen Etiketten, die Beschaffenheit der Flüssigkeit – manche klar, andere milchig mit Flöckchen, fast wie beim Inhalt einer Schneekugel. Ich zwang mich lächelnd dazu, die unzähligen Schälchen japanischer Küche zu verzehren, ungelenk mit den Stäbchen hantierend; ich vergöttere fast alles an Japan, bloß leider mit dem Essen kann ich mich nicht arrangieren, es ekelt mich sogar an, aber das durfte ich freilich nicht zeigen. Das Sake Tasting war dafür ganz nach meinem Geschmack! Auch als Laie merkte man die gehobene Qualität der Spirituosen, Hal war in ihrem Element, mir die Produktionsschritte und Beurteilung zu erläutern, sie strahlte glücklich über das ganze Gesicht. Schön war das, wirklich schön. Zuweilen setzte der Chef sich dazu, wieder übertrug Hal seine Fragen und meine Antworten. Wo ich lebe, was ich zu besichtigen gedenke, was ich in Tokyo morgen unternehme. Daß ich einen Kalligraphie-Kurs gebucht habe und neugierig sei, ließ ich erwidern. Der Herr, groß, breit, vielleicht in seinen Sechzigern, angetan mit Gastrouniform und Kappe, schien überrascht. Er stand auf, im Nebenraum verschwindend.
Das Lokal füllte sich, einzelne Geschäftsmänner überwiegend, am Nebentisch eine gesittete Runde dreier Freunde. Die Bedienung kam nicht hinterher, doch in Japan ist man äußerst geduldig und gelassen. Nach wohl einer Viertelstunde tauchte der Chef wieder auf; er reichte mir seine Visitenkarte (jeder Mensch besitzt Visitenkarten dort, und man muß sie ausgiebig studieren, wenn man nicht grob unhöflich wirken möchte), die ich nach Regel mit beiden Händen nahm und betrachtete. Er reichte mir noch etwas anderes: auf gelblichen Papier eine verschlungene Kalligraphie, die dunkelblaue Tinte glänzte noch, sogar gesiegelt war das Blatt. Ich freute mich sehr, das “Bild” war hübsch geraten nach meinem persönlichen Gusto. “Für dich!” sagte Hal, “Herr S. hat es für dich angefertigt, gerade eben.” Mehr als gerührt bedankte ich mich zum xten Mal. Was geschrieben stünde, wollte ich wissen. “Shodo” sagte der Mann, und ich verstand auch ohne Dolmetschen: der Weg der Schrift.
Hal war mittlerweile etwas beschwipst, die Weise des Gelöst-Heiteren (nichts unangenehmes war dabei). Sie kicherte vor sich hin. “Du wirst es nicht glauben.” zwinkerte sie mir zu. “Aber er kann Touristen nicht ausstehen!” Ich erschrak. “Ja, er verbietet mir sogar, daß ich welche mitbringe.” Mein Herz setzte aus, Gott, wie beschämend… “Dich fand er spitze. Erst ißt du die Hühnerbrühe, obwohl du dich vegetarisch ernährst. Dann läßt du dich überraschen, was den Sake anbelangt. Und zuletzt besuchst du als Westler eine Kalligraphieklasse! Er ist leidenschaftlicher Kalligraphiekünstler, weißt du.”
Wir hielten uns eine, eineinhalb Stunden auf im Sakelokal. Es war warmgolden erleuchtet, während Tokyo draußen sich in nachtblaue Schatten hüllte, ein behaglicher Kontrast. Für diese kurze Zeit war ich unter Freunden, geborgen, geachtet; wir würden einander nie wiedersehen. Die Kalligraphie freilich habe ich mit nach Deutschland genommen, erzählt sie mir von einem spontanen, zufälligen, herzlichen Aufeinandertreffen, wie sie es sind, die mich zum Reisen bewegen.
Der Pinsel glitt über das dünne Papier, sattes, spiegelndes Schwarz hinterlassend. Man hatte aufrecht zu sitzen, mit einem Arm den unteren Teil des Blattes zu fixieren, während der andere mit steifer Elle aber lockerem Handgelenk führte. Zwanzig Jahre war es her, daß ich das Malen hatte bleiben lassen, doch Motorik vergißt der Körper nicht. Meine Lehrerin klatschte lobend, was mir peinlich war. Ich hatte einen Kreis gemalt, in einem Zug, ein perfektes Rund. Die Schriftzeichen hernach würden nicht ganz so einwandfrei gelingen, ich versuchte mich an jenen für die Worte Blüte, Weisheit, Schönheit. Gerade die Weisheit bereitete mir Schwierigkeiten, es war ein Kompositzeichen, das mir stets aus der Mitte huschte und wackelig-mißproportioniert daherkam. Trotzdem verursachte es etwas in mir; ich spürte mit jedem Zug, mit jedem Strich – mal dicker, mal ausgedünnt, mal voller, mal kratzig – nichts geringeres als: Erlösung. So als fließe eine stagnierende Energie wieder an; oder als triebe man einen Pflock in ein Weinfaß. Ich schwor mir, die Kalligraphie beizubehalten, sie in meinen deutschen Alltag zu integrieren, und obwohl ich mir tatsächlich die Grundausrüstung in einem herrlichen Kyotoer Laden unter freundlichster Bedienung angeschafft hatte: Tinte, Behältnis, zwei Packen Übungsblätter, das Beschwerungsgewicht, einen dicken Pinsel, habe ich bisher nichts kalligraphiert, acht Monate lang nicht. Es ist etwas hier – daheim, im Umfeld, in Deutschland, wo immer!, es ist etwas, das mich im Griff hält und lähmt, oder auch einfriert.
Im gleichen Lehrraum der Kalligraphiestunden schloß sich ein kurzer Grundkurs in Ikebana an, die mich unterweisende Dame war in einen Kimono gewandet. In Japan dreht sich alles um geordnete Schönheit, wenngleich sie sich manchmal erst auf den zweiten Blick oder einer Kennerschaft zu erkennen gibt, wie etwa bei den roh anmutenden, beinahe derben Teeschalen. In Japan finde ich meine Schönheit, meine Auffassung davon, und deshalb macht dieses Land mich so ungeheuer glücklich.
Die Ilustration zeigt das Gegenstück zum westlichen Bacchus, es ist der Gott des Reisschnapses in der Gestalt eines Dachses