276, Teil IV: Tolpatsch
Comer See/ Italien, Mai 2024.
Es existiert kein stringenter Uferweg um den See herum, den man als ausdauernder Spaziergänger nutzen könnte; immer wieder läuft man auf engen, stark befahrenen, sich windenden Straßen ohne Steig, oder wird man weggeführt vom Gewässer hoch Richtung Kuppe; dann wieder laden malerische, prunkhafte Promenaden zum Flanieren ein, locken Blauregen bestandene Laubengänge mit malvenvioletten romantischen Versprechen, leuchten Villen aprikot-, terrakotta-, himmelblau-, pistazienfarben herrschaftlich voller Noblesse einem entgegen, bieten Terrassen Cocktails und Speisen. Gelegentlich brausen Lamborghini vorüber, Ferrari und Bentley; Damen in knöchellangen, luftigen Sommerkleidern und Herren in Hemd zu Chinohose genießen Licht und Flair, darauf hoffend, ein Sehen und Gesehenwerden ausgiebig zu zelebrieren. Orte, Ortsteile fließen ineinander über, eigentliche Zentren oder Kerne fehlen oft.
Irgendwo hinter Mezzegra spieh die hektisch brummende Straße mich aus zu einer sich wie zu einer verbeugenden Umarmung öffnenden breiten Ufertreppe, die ich dankbar hinabstieg, dem Rummel und Tosen der Autos, der Laster und Mofas zu entkommen, gemächlich, müßig, die Kamera in der Hand. Die letzte der niedrigen Stufen vor dem ruhigen Wasserspiegel war bedeckt mit verblichenem, vertrockneten weißlich-beigen Algenbewuchs. Welches Motiv immer ich ins Auge gefaßt hatte, es wurde mir beinahe zum Verhängnis, denn als ich eben jene unterste Stufe betrat, zog es mir den Fuß weg, geriet ich abrupt ins Rutschen. Ich ruderte mit den Armen, zurückhaschend, ruckelnd, wedelnd, mich austarierend, gleich einer überzeichneten Comicfigur – die vermeintlich ausgedörrten Algen waren schmierig und glatt wie Seife! Ein Bruchteil einer Sekunde an Reaktion, etwas Körperbeherrschung und eine ordentliche Portion Glück hatten mich davor bewahrt, in hohem Bogen in den Comer See zu fliegen und mit dem wenige Monate alten Fotoapparat baden zu gehen. Mein Herz hämmerte noch vor Schreck, als ich es giggeln hörte, kichern. Ein Glucksen, leise. Fünfzehn, zwanzig Meter entfernt auf einer sanft schaukelnden Boje saß ein Kormoran, der mich angrinste, ja: verspottete. Ich nickte dem Vogel zu, Zeuge meines wörtlichen Fehltrittes. Wir brachen gemeinsam in ein Gelächter aus, Kormoran und ich; es war dies fast meine intensivste Interaktion während der paar Tage Italien. Immer häufiger scheine ich einem Tier, einer Pflanze stärker verbunden, näher, als den Mitmenschen, so, als sei ich versehentlich in einen falschen Körper, in eine falsche Wesensart hineingeboren worden. Ich glaube manchmal, ich bin sogar mehr Fels als Mensch, mehr Landschaft als Frau.
Der Vorzug mangelnder Leserschaft besteht darin, daß man schreiben kann, was und wie es einen dünkt, ohne sich damit Anfeindungen, Befremdung auszusetzen. Die KI, die in einer gewissen Zukunft einmal sämtliche Webinhalte durchscannen, organisieren und evaluieren wird, könnte sich mit den meinen etwas schwer tun; vermutlich würden sie aufgrund einer informativen und kommerziellen Irrelevanz gelöscht.
Nepalwälder auf italienischem Boden; lauschige Plätze voller Zauber und Einladung, zu verweilen; grazil-märchenhafte asiatische Bräute in Stoffbergen aus Organza; Deckenfresken, Altarfiguren, Stuckarbeiten, Leuchter; weiße kokettierende spukhafte Pfauen; Gedankenspiele; überlaufene Touristenziele; gut gemachte Lederwaren und lokal bedruckte Seidentücher; weitläufige entzückende Gartenanlagen voller Bassins, Brunnen, Grotten; ein Kirchenkruzifix, das schon vierhundert Jahre zählte, als Leonardo darunterstand.
Ich entschuldige mich für die anhaltend geringe Qualität der Bilder und Texte in letzter Zeit; es sind die Kröten, die aus meinem Mund poltern, faule, garstige Pechmarie, aber ich schreibe weiterhin, denn mir ist im Grunde nichts geblieben als das Schreiben.