275, Teil III: Und ab!
Comer See/ Italien, Mai 2024.
Ich kann das nicht.
Ich kann nicht sitzen, wenn man schon so viel gesessen war; oder allenfalls ein wenig durch die Gegend gebummelt. Kann mich nicht in den Hotelgarten hocken auf den zweistündigen Aperitif vor einem zweistündigen Diner – nein, ich kann das nicht. Ich muß gehen, muß, muß. Gehen, ein Schritt, rasch, und darauf gefolgt der nächste, weit ausgreifend, sich in der Umgebung bewegend, sie sich dadurch aneignend – geistig, nicht materiell.
Ich spannte also am Bootssteg noch den Schirm auf und trabte los, einfach eine Richtung einschlagend, abwartend, was sie bergen möge. Ich spüre die Freiheit dann von den Hüftgelenken ausstrahlend und als Erleichterung im Brustraum, ja, verrückt klingt das.
Neben uralten, blaue Blütendolden tragenden Glyzinien ein auf eine Umfassungsmauer gespraytes Graffiti, oft Kern irgendeiner verborgenen Volksweisheit, und in diesem Fall lautete sie: “I / need / want / money”, welch ein Eingeständnis, beinahe sympathisch aufgrund der Aufrichtigkeit.
Am Hang weit oben steht die Kirche des Ortes, dorthin zog es mich, doch führten die Straßen (zumal für nicht Motorisierte) nicht geradlinig hoch, sondern in verschlungenem Zickzack auf und nieder, sehr verwirrend. Schmales, unebenes Kopfsteinpflaster durch engste Gassen und Winkel, vorbei an jahrhundertealten Hutzelhäuschen aus Stein, so spazierte ich durch die Ortschaft Mezzegra, ansteigend zur grün belaubten, Nebel verhangenen Bergflanke. Einige windschiefe Immobilen standen zum Verkauf, man war sich nicht sicher, ob sie überhaupt über Strom und fließend Warmwasser verfügten; die Fenster klein und dunkel, ein Flüstern aus verloren-entschwundenen Zeiten, verlockend – raus, raus aus dem deutschen Chaos daheim… Überhaupt wirkte vieles verlassen: der Comer See ist solch eine Edellandschaft, daß es meist reiche Mailänder Familien oder Ausländer sind, die sich die begehrten Grundstücke leisten können, und die sie als Feriendomizil für wenige Wochen im Jahr nutzen, d.h. es stierten einem überwiegend heruntergelassene Jalousien entgegen, selbst in Mezzegra, welches man nicht unbedingt die erste Wahl nennen kann.
Allmählich kam ich höher, langen mäandernden Schlaufen folgend, zuweilen Autostraßen querend. Rassehühner und Rosen, Kräuterwiesen, Äcker mit Olivenbäumen, und noch immer befand ich mich in der wie entvölkerten kleinen Stadt. Bei manchen Durchgängen hätte ich mich nie getraut, sie zu nutzen aus Respekt vor Privatbesitz, hätten nicht immer wieder Tafeln an ihnen geprangt, die unaufgeregt, eher lakonisch, über ein dickes Stück italienischer Geschichte aufklärten: in diesem Palazzo habe Mussolini seine letzte Nacht verbracht, versteckt bei einer guten Freundin, und dort sei er von Partisanen aufgegriffen worden während seiner Flucht mit Ziel der nahe gelegenen Schweizer Grenze, und ein paar hundert Meter hinten, da sei er schließlich erschossen worden. Oh! Ich hatte nie etwas von Mezzegra gehört… Ich passierte also jene Durchgänge, eng und düster, und mit jedem weiteren schien ich tiefer in die Vergangenheit zu reisen, beinahe mittelalterlich muteten die Gebäude, Mauern, religiösen Areale an, die von nichts beseelt wurden, keinem Stück trocknender Wäsche, keiner streunenden Katze, keinem Hundegebell oder Kanarienvogeltrillern. Es war stumm und leer, und es war das letzte, was Mussolini je erblickt hatte (nicht daß er Mitleid verdient hätte – und doch, irgendwie, ich vermochte es nicht abzuschütteln, das Mitleid, nicht für den Kriegsverbrecher Mussolini, sondern für den Menschen Mussolini – ich weiß, viele würden empört widersprechen und betonen, daß ein massenmörderisches Scheusal kein Mensch sei, und ich würde dem eigentlich definitiv zustimmen, nur eben in jenen Momenten, als ich über die Gassen flanierte, auf den Spuren seiner allerletzten Stunden wandelnd, da wurde ich einfach nicht frei von diesem leisen Mitleid, denn ich selbst, ich möchte nicht erschossen werden).
Die ursprünglich anvisierte Kirche – die Front geschleckter Barock, die restlichen Seiten ehrwürdige Romanik – hatte ich übrigens längst hinter mich gebracht, nicht ohne zuvor den Friedhof zu besuchen, eine Angewohnheit, die mir wohl meine Mutter vermittelt hat und bei der ich bestürzt feststellte, daß ich in Mezzegra lieber keine Immobilie erwerben wolle, denn unfaßbar viele Leute waren jung in ihren Dreißigern, Vierziegern und Fünfzigern verstorben, bei einer Familie hatte es gar drei Beerdigungen binnen eines Monats gegeben, der Jüngste keine sechzig geworden… Nun, mein absichtsloses Umherstreifen besaß etwas morbide Faszinierendes, ich gebe es gerne zu. All diese unverputzten Gemäuer um mich herum, nicht steril gerade gezirkelt, sondern stückweise angebaut und erweitert, inspirierten mich. Und irgendwann dann hörte es auf. Wirklich! Knapp drei Meter hinter der letzten Häuserzeile stieß ich auf blanken, dunkelgrauen, farn- und buschumwucherten Felsen, gigantisch aufragend, zerbeult auskragend. Man stand zur Wand, mit dem Gesicht zur Wand, wie passend für die Ergreifung und Hinrichtung Mussolinis. Wasserrinnsale plätscherten den Stein hinab, sich im Regen auflösend. Es roch nach Erde und nassem Berg. Endstation, finito.
Sehr wahrscheinlich sind meine Schilderungen vom Comer See nicht das, was man hören wollen würde oder erwarten; ich schwimme nicht absichtlich gegen den Strom, es sind nur dies meine Eindrücke. Ich kann nicht sitzen, immerzu sitzen, und ich kann nicht Klischees zelebrieren, wieder und fortan wieder, ich brauche meine eigenen kleinen Erinnerunen und Assoziationen und Impulse. Ich bin nicht gierig nach dem Traurigen, Schweren, Dunklen; ich möchte einfach erzählen dürfen, was mich umtreibt, beschäftigt, berührt: Yoga auf dem Parkettboden, ein für mich neu entdeckter Abenteurer mit Kunstgeschmack, ein Mensch in Not, wie sie vielleicht jeden von uns ereilen könnte ganz plötzlich, die Tage vor dem Tod eines Diktators.
Aber es ging ja vorhin um die Freiheit in den Beinen, und dazu gäbe es noch diese Geschichte: die Rückreise jener Gartentour führte über das malerische Dorf Carona (richtig, Carona) in der Schweiz über einen dortigen öffentlichen Park mit herrlichen Rhododendronbeständen sowie Lugano nach Mailand zum Flughafen. Eben jener Park, in dem die Sträucher hundertfach in voller Blüte standen, violett, blau, rosa, pink, orange, gelb, weiß, ein buntes Meer des Wohlgefallens, entfaltete sich über mehrere Flanken weit über dem Luganer See. Am Toilettenhäuschen war ein Schild aufgepflanzt, Alpe Trali-Trala (den Namen habe ich vergessen), 1 h 5 min. Ich kuckte auf die Armbanduhr. Mir blieben zwei Stunden bis zur vereinbarten Weiterfahrt des Busses. Ich wog ab, kurz, ganz kurz nur, und dann flog ich los. Ich trug die verkehrten Schuhe dazu, schickere Sneaker für die Stadt, und obendrein einen Blazer zu engen Jeans, aber es war mir egal. Ich stieg über rötlich-schwarze, feuchte Erde, über knorriges Wurzelwerk und groben Schotter, der mich gemahnte, bitte nicht umzuknicken. Saftig grünende, junge Maronenbäume umwoben mich, mich anfeuernd, Los! Lauf! Ich schritt weit aus, den Puls spürend, die arbeitenden Muskeln und die Freude am Gehen, die Freiheit eben: das Pferdchen war von den Zügeln gelassen. Schöne Aussichtspunkte, ein schnuckeliger Ortsrand, Buchenschluchten wehten vorüber, ich hatte die Zeit nicht, sie zu würdigen, und doch nahm ich sie wahr, voll und ganz wahr. Der Wald lichtete sich, Wiesen rahmten mich ein, aus denen es munter zirpte, ein fernes, friedliches Idyll beschwörend. Ich erklomm eine Hügelkuppe – tatsächlich, da stand sie, die Alpe, die Terrasse romantisch eingedeckt mit Leinen und Glaswaren. Schwarzlila Iris gediehen hinter einem bäuerlichen Staketenzaun. Und diese Sicht! Als schaue man ringsum ins Paradies, sanft und satt, grüner Schlummer, trunken vor Frühling… Ich orderte mir flugs einen Esspresso doppio macchiato, trank ihn im Zauber der Bergkulisse dankbar aus und legte die gleiche Strecke zurück, eben zum Rhododendronpark hin und weiter hinunter nach Carona, zum Bus. Ich hatte insgesamt bloß neunzig Minuten benötigt und sogar noch Zeit, mir die Dorfkirche von innen anzukucken. – Ich liebe es, zu gehen! Solch ein Genuß!
Ich lächelte noch Stunden später vor Glück.
Illustration zeigt den Park der Villa Carlotta am Comer See