274, Teil II: Der Einsatz
Comer See/ Italien, Mai 2024.
Mit Rita, eine der Mitreisenden, verstand ich mich auf Anhieb, sie hatte mich bereits am Mailänder Flughafen sehr nett und offenherzig angesprochen. Wir teilten uns im folgenden die Abendtafel des Hotelrestaurans, saßen während der kurzen Busfahrten (die uns von Park zu Villa zu Bootsanlegestellen brachten) nebeneinander, erkundeten manche der Städtchen gemeinsam, ohne permanent aneinander zu kleben. Wir unterhielten uns über Gärten, Pflanzen, Museen, Ausstellungen, Kultur und schwammen insgesamt auf einer Wellenlänge, obwohl sie um einiges älter war und meine Mutter hätte sein können. Wenn ich geahnt hätte, daß sie mich später völlig abrupt entsorgen würde wie eine obsolet gewordene Wochenzeitung, ich hätte mich zurückgehalten mit Worten und Themen, so wie ich auch zu den meisten anderen Distanz gewahrt hatte.
Wir suchten die vom einheimischen Guide empfohlene Bar Rossi an der Seepromenade von Bellaggio auf, des Regens wegen einen Platz im kleinen, behaglichen Lokalinneren wählend. Dolce Vita in Reinform! Ein uriger Bartresen auf der einen Seite, ihm gegenüber eine eichenhölzerne, dunkelgebeizte Schrank- und Regalwand in Jugendstilmanier, versehen mit Spiegeln, Flaschen, Glaswaren. Eng gestellt niedliche Bitrotische und -stühle, daran murmelnd plaudernde Leute, die es sich gut gehen ließen. Kellner in legerer schwarzer Livree, erstaunlich viele und ein wenig hektisch, nahmen die Bestellungen auf, servierten, legten Rechnungen nieder. Wir gönnten uns Panini und Minestrone zu Aperol Spritz und Bellini, Klischee pur, manchmal muß das sein. Draußen kühles Grau und drinnen wuselig-gedämpfte, rustikale Gemütlichkeit. Der Mann, der unsere Order notierte – tatsächlich auf einem Papierblock und nicht mit einem Bildschirmapparat -, war in seinen Sechzigern, sehr schlank und groß geschossen, hager, die zerfurchten Wangen eingefallen, das Haar halblang gewellt, silbrig grau und schick nach hinten gelegt. Irgendwie ein Unikat, eine Type – im positiven Sinne. Er wirkte reserviert aber gewissenhaft auf mich. Ich studierte ihn, wie ich zuvor das Interieur studiert hatte, mit Interesse und Wohlwollen.
Rita erzählte mir gerade stolz von ihrem Sohn, der einen Handel mit Vintagemöbeln eröffnet hatte, auf vierhundert Quadratmetern bot er selbst aufbereitete Sixties-Objekte feil, die besonders bei Studenten begehrt seien. Die Stücke triebe er auf Flohmärkten und Trödelhandlungen etwa in Belgien auf, und ich wollte einhaken und von den kautzigen Shops in Brüssel berichten, als Tipp für ihn, da brach vor der Bar Rossi Hektik aus. In den ersten Momenten amüsierten wir uns, glaubten wir nämlich, die ausgefahrenen Markisen hätten dem Sturzregen nicht weiter standgehalten und speisende Gäste würden plötzlich durchnäßt. Menschen waren aufgesprungen, ratlos herumstehend. Rita lachte noch, da sagte ich zu ihr: “Nein, da ist was passiert. Die Gesichter wirken sehr betreten.” Ich hatte spontan eine dicke Dame vor Augen, deren Kreislauf schlapp gemacht habe, so in der Art eben, Unterzuckerung, Überanstrengung. “Meinst du?” fragte Rita, von Beruf Kinderärztin. Sie erhob sich und schritt gefaßt-zielstrebig aus dem Barraum hinaus vor die Straße, meinem Blickfeld entschwindend. Lange kam sie nicht wieder, zehn, fünfzehn, zwanzig Minuten nicht. Die anderen Kellner waren hinter dem Tresen zusammengelaufen, gestikulierend, aufgebracht schreiend. Sie kannten zunächst die Notfallnummer nicht, brauchten ein wenig, sie zu wählen. Irgendwann nach gefühlter Ewigkeit tauchte ein sirenenschreiender Krankenwagen auf, das Blaulicht unruhig über die stoischen Jugendstilschnitzereien zuckend, und von Rita noch immer keine Spur. Bloß das Essen wurde zwischenzeitlich serviert, das ich freilich nicht anrührte. Leute betraten die Bar, wollten bedient werden. Die Kellner schickten sie weg. Sie versuchten es in weiteres Mal. Waren sie derart blind für das Geschehen um sie herum, hatten es wirklich nicht bemerkt? Oder waren sie so kalt, abgebrüht? Mit Nachdruck wurden sie verabschiedet, da half auch das Chaneltäschchen nichts.
Endlich tauchte Rita auf, die Miene eingefroren, nicht zu lesen. Daß sie sich die Hände waschen wolle, ehe sie ihr kalt gewordenes Panini esse. Immer noch eine kreislaufgeschwächte, rundliche Dame im Sinn fragte ich sie, ob es arg schlimm sei für die Person, die ihre Hilfe benötigt habe. “Herzstillstand.” sagte Rita. “Er war eisig, schwitzig-eisig. Ich mußte ihm die Zunge aus der Kehle holen.” “Er?” “Ja, der ältere Herr, der Kellner, bei dem wir bestellt haben.” Sie und eine andere anwesende us-amerikanische Ärztin hatten ihn zumindest reanimieren können, wie es weiter um ihn stünde, das wisse man nicht. Der Krankenwagen stand eine Dreiviertelstunde nach dem Eintreffen weiterhin da. Ein gutes Zeichen? Ein schlechtes?
Rita beglich an der Kasse ihre Rechnung. Sie ließen sie zahlen! Einen Aperol und ein Sandwich, nicht einmal dies als Dank – denn auch Worte folgten keine – für jemanden, der dem Kollegen die Erstversorgung hat angedeihen lassen! Keine fünfundzwanzig Euro für eine Wiederbelebung, kein Lächeln, keine einzige Geste der Wertschätzung. Ich bin noch nicht vierzig und ich verstehe die Welt, in der wir uns befinden, einfach nicht mehr.
Ich möchte nicht zu den letzten paar Menschen gehören müssen, mit denen der Mann von der Bar Rossi je sprach, ihn banal fragend, ob die Minestrone vegeatrisch, also ohne Hühnerbrühe bereitet sei , — ich hoffe, er hat es geschafft.